Spitäler am Scheideweg – «Managing Capacity» als Engpassfaktor

Steigende Anforderungen und knappe Ressourcen erhöhen den Entscheidungsdruck in den Spitälern. Für Johannes Rüegg-Stürm sind klare Kommunikation und kooperative Entscheidungsfindung entscheidend für die Zukunft.

, 12. August 2023 um 05:00
image
Die Behandlungsmöglichkeiten heutiger Spitäler, aber auch die Erwartungen der Stakeholder nehmen fortlaufend zu. Gleichzeitig sind die verfügbaren Ressourcen begrenzt, oder sie werden zunehmend knapper, wie z.B. die Gewinnung und Bindung motivierter Fachpersonen. Dies zusammen führt in vielerlei Hinsicht zu einem wachsenden Fokussierungs- und Entscheidungsdruck.
Dieser Entscheidungsdruck artikuliert sich nicht nur bei Behandlungsentscheidungen. Spitäler werden heute vor allem von Entscheidungen im Bereich der System- und der Gesamtführung herausgefordert.
Bei der «Systemführung» geht es um die Gestaltung förderlicher Arbeitsbedingungen, d.h. um die Gestaltung von Informationsflüssen, Koordinations- und Entscheidungsplattformen, um die Dienstplanung, das räumliche Layout, die technologische Infrastruktur, Priorisierungsregeln, usw.
Im Zentrum der «Gesamtführung» stehen das Leistungsangebot eines Spitals, Standorte, Partnerschaften mit anderen Leistungsanbietern, aber auch die Governance (Eigentums- und Aufbaustruktur, Leitungsgremien und deren Arbeitsfähigkeit, Kompetenzordnung) usw.

«Zurzeit gewinnen Systementscheidungen und Gesamtführungsentscheidungen stark an Bedeutung, wenn wir an Entwicklungsinitiativen wie Lean Hospital, Integrierte Versorgung, Digitalisierung oder Hospital at Home denken.»

Entscheidungen im Bereich der System- und Gesamtführung sind nicht einfach Festlegungen, die von einzelnen Personen vorgenommen werden können, sondern Klärungsprozesse, deren Ergebnis Bindungswirkung erzeugen muss – «commitments to action». Entscheiden ist ein Kommunikationsprozess, der am Ende formell mit einem Autorisierungsakt (Beschluss) abgeschlossen wird. Dieser entfaltet nur dann Wirkung, wenn er als gültig und verbindlich wahrgenommen wird. Ob diese Wirkung erzielt wird, hängt ganz stark von der Qualität des Entscheidungsprozesses ab, von dessen wahrgenommener Transparenz, Fairness, Einbezugs- und Feedbackmöglichkeiten, usw.
Zurzeit gewinnen Systementscheidungen und Gesamtführungsentscheidungen stark an Bedeutung, wenn wir an Entwicklungsinitiativen wie Lean Hospital, Integrierte Versorgung, Digitalisierung oder Hospital at Home denken.
Wie sieht es aber mit der gewachsenen Entscheidungspraxis in heutigen Spitälern aus? Gelingt es innert nützlicher Frist, das für eine Entscheidung erforderliche Wissen zugänglich zu machen? Gelingt es, die verfügbare Expertise und Erfahrung der Mitarbeitenden kommunikativ abzuholen? Gelingt es, sich gemeinschaftlich für eine Entscheidung (commitment to action) durchzuringen? Gelingt es, wichtige anstehende Herausforderungen und Handlungsnotwendigkeiten gemeinschaftlich wirksam zu bearbeiten?

«Während einige Spitäler durch eine förderliche Management-Praxis gekennzeichnet sind, fehlt es in vielen Spitälern an einer gemeinschaftlichen Entscheidungspraxis und an robusten Spital- und Klinikführungsprozessen.»

Anhand der Antworten auf solche Fragen lässt sich die wahrgenommene Qualität der Management-Praxis eines Spitals ablesen. Und genau diesbezüglich trennt sich zur Zeit der Spreu vom Weizen. Während einige Spitäler durch eine förderliche Management-Praxis gekennzeichnet sind, fehlt es in vielen Spitälern an einer gemeinschaftlichen Entscheidungspraxis und an robusten Spital- und Klinikführungsprozessen. Stattdessen dominieren mancherorts weiterhin «Gärtchendenken», hierarchisch-patronales Führungsverhalten und intransparente Machtspiele bis hin zu theistischem Despotismus. Dies wird heute in doppelter Hinsicht zu einer existenziellen Bedrohung für Spitäler: Erstens können so strategische Zukunftsthemen nicht rechtzeitig und integrativ angepackt werden. Zweitens reagiert die jetzt neu ins Arbeitsleben eintretende Mitarbeitendengeneration besonders allergisch auf paternalistische, machtgetriebene, intransparente Entscheidungsprozesse.

«Insbesondere Geschäftsleitung und Verwaltungsrat müssen die Arbeits- und Entscheidungsfähigkeit – auch ihre eigene! – und damit die Entwicklungs- und Zukunftsfähigkeit ihrer Organisation dringendst auf den Radar nehmen.»

Mit anderen Worten werden der Aufbau und die Kultivierung einer förderlichen Entscheidungspraxis quer durch ein Spital zu einer existenzrelevanten Management-Aufgabe. Insbesondere Geschäftsleitung und Verwaltungsrat müssen die Arbeits- und Entscheidungsfähigkeit – auch ihre eigene! – und damit die Entwicklungs- und Zukunftsfähigkeit ihrer Organisation dringendst auf den Radar nehmen. Im Zentrum steht dabei die Kommunikation – nicht nur bilateral – unter vier Augen, sondern die Gestaltung motivierender Kommunikationsplattformen und die Verankerung von förderlichen Praktiken einer konflikttoleranten lösungsorientierten Kommunikation.
Spitäler müssen deshalb vermehrt nicht nur in die Fachausbildung, Infrastruktur und Technologie investieren, sondern vor allem in ihre «Managing Capacity», d.h. in die systemische Fähigkeit, aktuelle Herausforderungen gemeinschaftlich zu bewältigen und proaktiv Voraussetzungen für zukünftigen Erfolg zu schaffen. Dies hat viel mit Kulturentwicklung zu tun, d.h. mit der Entwicklung einer förderlichen Kommunikations-, Kreations- und Entscheidungspraxis in den unterschiedlichsten Arbeitskontexten eines Spitals. Dazu gehört auch eine Beziehungskultur, die von Wertschätzung, Klarheit und einem tief verankerten Bewusstsein wechselseitiger Angewiesenheit geprägt ist. Der Aufbau von «Managing Capacity» erfordert so nicht eine heroische, sondern eine dienende Führung («servant leadership») – Führen als transparentes respektvolles Herbeiführen von tragfähigen verbindlichen Entscheidungen.
Johannes Rüegg-Stürm ist Professor für Organization Studies an der Universität St. Gallen. Er engagiert sich in einem langfristig ausgerichteten Forschungsprogramm zum Management im Gesundheitswesen.

  • gastbeitrag
  • Johannes Rüegg-Stürm
Artikel teilen

Loading

Kommentar

Mehr zum Thema

image

Die Info-Kampagne zum EPD ist zum Scheitern verurteilt

«Solange Ärztinnen und Ärzte keinen Nutzen haben, können sie auch keine Patienten vom EPD überzeugen», sagt Anna Winter, die Präsidentin IG eHealth,

image

Werfen wir die Flinte ins Korn

Auseinanderbauen, reparieren, zusammenschrauben. Dies mag bei der Rakete funktionieren, nicht jedoch bei einem komplexen System wie dem Gesundheitswesen.

image

Tardoc und kantonale Höchstzahlen – eine toxische Mischung

In diesem Gastbeitrag erläutert Florian M. Buck, welche Auswirkungen der Tardoc-Tarif und die festgelegten Höchstzahlen für Ärzte auf unser Gesundheitssystem haben.

image

Keine Mehrheit für mehr staatliche Steuerung

Die Gesundheitskommission (NR) will nichts von neuen staatlich beaufsichtigten und gesteuerten Leistungserbringer im Gesundheitswesen wissen. Sie hat sich klar gegen die Schaffung von «Netzwerken» entschieden. Das ist gut so. Als Alternative soll die freiwillige Kooperation gestärkt werden.

image

Lernen von den Klassenbesten – auch bei eHealth!

Peter Indra empfiehlt, dass die Schweiz von Estland lernt und dabei die staatliche Kontrolle über Gesundheitsdaten bewahrt, anstatt sie privaten Unternehmen zu überlassen.

image

Das Gesundheitswesen am Abgrund?

Natalie Urwyler schreibt über die Gleichberechtigung von Frauen und Männern in der Medizin. Die bekannte Ärztin hält strukturelle Veränderungen für erforderlich.