Dem
Gastkommentar von Verena Nold vom 8. April 2023 ist dahingehend absolut beizupflichten, dass die Bezahlbarkeit der Gesundheitsversorgung bereits heute für breite Bevölkerungsschichten akut auf der Kippe steht. Davon zeugt etwa auch der im
internationalen Vergleich sehr hohe «Leistungsverzicht aus finanziellen Gründen», zu dem sich gemäss
neuster Sotomo-Umfrage bereits fast jeder fünfte Versicherter oder jede fünfte Versicherte gezwungen sieht. Hauptursache für diese Situation ist die im europäischen Vergleich beispiellos unsoziale Finanzierung der Grundversicherung: Während
gemäss OECD in fast allen vergleichbaren Ländern der Anteil der über einkommensabhängig erhobene Mittel (Steuern oder Lohnbeiträge) finanzierte Ausgaben bei rund 80 Prozent liegt, sind es für die Schweiz gerade mal rund 30 Prozent. Denn hierzulande müssen die Versicherten den Löwenanteil bekanntlich über Kopfsteuern (Prämien) berappen. Und darüber hinaus haben sie noch eine – ebenfalls rekordhohe – direkte Kostenbeteiligung von über fünf Prozent der Haushaltsausgaben zu stemmen. Letztere umfasst bei Weitem nicht nur Franchise und Selbstbehalt, sondern zum Beispiel auch Milliarden für die Zahnpflege und von der OKP nicht übernommene Medikamente.
Absolut kein Problem mit der Finanzierbarkeit kann hingegen Fridolin Marty erkennen, wie er in seiner
Replik auf Verena Nold festhält: Schliesslich würden die Haushalte «im Durchschnitt» bei Weitem mehr Mittel auf die hohe Kante legen, als sie für Prämien ausgeben müssten. Abgesehen davon, dass die «Out-of-pocket»-Ausgaben hier ausblendet werden, ist eine Durchschnittsbetrachtung in diesem Fall natürlich nichtssagend. Denn wieso schwingt die Sorge um die Bezahlbarkeit der Gesundheit seit Langem in fast allen relevanten Bevölkerungsumfragen mit Abstand obenaus? Weil breite Bevölkerungsschichten leider weit weg von einer Durchschnittsrealität leben müssen. Betrachtet man relevante Haushaltsschichten – wie dies im offiziellen
«Prämienmonitoring» seit Jahren korrekt gemacht wird – so lässt sich über die letzten 20 Jahre (2000-2021) eine Verdoppelung der Prämienbelastung von 6.5 auf 14.0 Prozent des verfügbaren Einkommens feststellen. Und dies nach (!) Erhalt von Prämienverbilligungen.
«Denn die Tatsache, dass die Prämien über die letzten 20 Jahre um 120 Prozent gestiegen sind (inflationsbereinigt!), während die Reallöhne gleichzeitig nur um 15 Prozent zunahmen, illustriert doch eindrücklich, wie die heutige Finanzierungsweise des Gesundheitswesens die Kaufkraft der Leute immer mehr zum Erodieren bringt.»
Mit letzterer Bemerkung ist auch gleich eine zweite wichtige Ursache der «Bezahlbarkeitskrise» angesprochen: Während sich die Prämienzahlenden jedes Jahr dynamisch am Ausgabenwachstum beteiligen müssen, hat sich der OKP-Finanzierungsanteil der Prämienverbilligungen in der genannten Periode mit einem Rückgang von 12.4 auf 7.6 Prozent fast halbiert. Und dies, obwohl die Prämienverbilligungen ursprünglich explizit als integraler Finanzierungsbestandteil und wirksames Korrektiv zu den Kopfprämien konzipiert und verstanden wurden. Von dieser Sicht haben sich leider insbesondere die Kantone verabschiedet: Über die letzten 10 Jahre haben 19 von 26 Kantonen ihre Prämienverbilligungen anteilsmässig reduziert, und dies teilweise sehr stark.
Es ist überhaupt nicht einzusehen, was – so Marty – «populistisch» daran sein soll, die Entwicklung der Prämien mit jener der Löhne zu vergleichen. Denn die Tatsache, dass die Prämien über die letzten 20 Jahre um 120 Prozent gestiegen sind (inflationsbereinigt!), während die Reallöhne gleichzeitig nur um 15 Prozent zunahmen, illustriert doch eindrücklich, wie die heutige Finanzierungsweise des Gesundheitswesens die Kaufkraft der Leute immer mehr zum Erodieren bringt. Und das ist erneut lediglich eine Durchschnittsbetrachtung: Für Haushalte mit tiefen und mittleren Einkommen ist die Situation noch wesentlich gravierender.
Im Gesundheitswesen braucht es selbstredend viele Reformen: Die Pflegeinitiative muss möglichst bald umgesetzt, die Medikamentenpreise endlich gesenkt und die Fehlanreize über die Zusatzversicherungen schnellstens beseitigt werden – um nur einige Beispiele zu nennen. Aber um eines kommen wir auch mit all diesen Projekten in jedem Fall nicht herum: Um eine sozialere und im internationalen Vergleich einigermassen vorzeigbare Finanzierung unserer Grundversicherung.
Reto Wyss ist Ökonom und Zentralsekretär im Bereich Ökonomie beim Schweizerischen Gewerkschaftsbund (SGB).