Der Millenniumswechsel war gerade ohne Schaden überstanden, die Nullerjahre hatten begonnen, mit dem Elan des Neuen, als einigen schlauen Hausärzten auffiel, dass sie ja alle im gleichen Alter waren. Die logische Folge: Sie werden auch etwa zur gleichen Zeit ihre Praxistätigkeit beenden.
Das wäre an und für sich kein Problem, ausser... ja, eben, ausser es folge niemand nach. Und genau dies war und ist der springende Punkt. Um ihre Befürchtungen wissenschaftlich zu untermauern, hat deshalb die damalige Fachgesellschaft der Hausärzte eine erste Workforce-Studie in Auftrag gegeben.
«Ein Drittel der Konsultationen werden nicht mehr geleistet werden können.»
Die Kollegen um Professor Tschudi in Basel kamen 2005 wenig überraschend zum Schluss, dass in den kommenden 30 Jahren wegen der Pensionierungen der Baby-Boomer und der geringeren Anzahl Nachfolger eine kritische Situation zu erwarten sei. Die folgenden Studien, alle fünf Jahre durchgeführt, bestätigten die Voraussagen mit hoher Genauigkeit.
Der Appell an die Verwaltung und die Politik verhallte nicht ganz ungehört, aber ohne griffige Konsequenzen, so dass wir heute genau in der vorausgesagten Klemme stecken: Wir haben zu wenig Haus- und Kinderärztinnen. Zu den eigenen Zahlen kam noch eine Studie der OECD, die zur Schlussfolgerung gelangt ist, dass in Zukunft sicher ein Drittel der Konsultationen nicht mehr geleistet werden könne.
«Wir werden in den nächsten Jahren die Versorgung der Bevölkerung nicht mehr sicherstellen können.»
Die Überbringer der schlechten Botschaft mussten sich von Obsan und BAG erklären lassen, dass ihre Befürchtungen unbegründet seien, es gebe ja zu viele Ärzte. Der Fokus der Krankenkassen und deren Verband warnte davor, zu viele Praxen zu eröffnen, die Kosten würden ins Unermessliche steigen, jede Neueröffnung koste das System eine halbe Million Franken.
Eine vom Bundesrat eingesetzte Expertenkommission formulierte mögliche Massnahmen zur Kostendämpfung, die in der Folge das Parlament beschäftigt haben, bis heute. Und die Konsequenz ist, dass alle mögliche Kostenprobleme diskutieren, ohne die heraufziehende Gefahr zu erkennen: wir werden in den nächsten Jahren die Versorgung der Bevölkerung nicht mehr sicherstellen können.
«In der Zwischenzeit haben auch die Spitäler bemerken müssen, dass ihr Hauptproblem weniger die Kosten, denn die fachlichen Ressourcen darstellen.»
In der Zwischenzeit haben auch die Spitäler bemerken müssen, dass ihr Hauptproblem weniger die Kosten, denn die fachlichen Ressourcen darstellen. Während der Pandemie sind wir schon am Eisberg entlanggeschrammt: Der Mangel an qualifizierten Pflegefachkräften ist da erstmals wirklich in Erscheinung getreten. Erstmals? Nein, denn in der Pflege haben wir uns seit Jahrzehnten nur dank Menschen aus dem Ausland über Wasser halten können.
Aber auch das ärztliche Personal muss schon lange aus dem Ausland akquiriert werden, psychiatrische Kliniken können seit vielen Jahren nur mittels Kolleginnen aus dem Ausland den Betrieb sicherstellen. Dass somatische Spitäler reihenweise Betten schliessen müssen, weil ihnen das Personal fehlt, wird nur hinter vorgehaltener Hand geflüstert.
Im Kanton Bern wurden erstmals Spitäler geschlossen, weil die Personalsituation ein Weiterbetreiben nicht erlaubt. Die Ressourcenproblematik führt dazu, dass dringend nötige strukturelle Reformen unseres Systems nicht freiwillig, sondern unter hohem Druck ausgeführt werden müssen. Da nützt es nichts, höhere Entschädigungen zu fordern!
«Wir werden in den nächsten Jahren gewisse Leistungen streichen müssen.»
Was bedeutet diese Entwicklung für unsere Bevölkerung? Wir müssen sie damit konfrontieren, dass die Leistungen, die unser qualitativ hochstehendes Gesundheitssystem bisher erbracht hat, so nicht mehr möglich sind.
Wir werden in den nächsten Jahren gewisse Leistungen streichen müssen, wir werden unseren Patientinnen erklären müssen, dass sie vermehrt auch längere Wartezeiten in Kauf nehmen müssen, und wir werden als Gesellschaft diskutieren müssen, welche Angebote aufrechterhalten werden sollen, und welche nicht.
Keine einfache Aufgabe. Es werden einige schmerzhafte Einschnitte geschehen müssen, damit das System als Ganzes nicht abstürzt. Pflästerli nützen da nichts mehr...
Dr. med. Philippe Luchsinger, Präsident Haus- und Kinderärzte Schweiz.