Wir alle kennen die Situation: Eine sehr starke Grippe hat dich oder einen deiner Liebsten im Griff; die üblichen Hausmittel, die gut gefüllte Hausapotheke und der Gang zur Apotheke scheinen keine wirkliche Linderung zu bringen. Die Geduld ist am Ende, und die Nerven sind strapaziert – bei den Betroffenen wie bei den Angehörigen.
Wie weiter? Der Gedanke, zum Hausarzt zu gehen, liegt nahe, doch die Realität sieht oft anders aus. Viele haben keinen festen Hausarzt mehr, gerade wenn sie jünger sind. In Städten gibt es die Permanence, aber auf dem Land? Da wird die Suche nach medizinischer Hilfe schnell zur Odyssee.
Die nächstbeste Option scheint der Notfall im Spital zu sein. Doch will man den wirklich mit einer «Bagatelle» belästigen? Ich definitiv nicht.
Alessia Schrepfer ist ausgebildete FaGe sowie Dipl. Pflegefachfrau BSc FHO und hat einen Master in gerontologischer Pflege ZHAW. 2022 (mit-)gründete sie WeNurse, einen Freelance-Pool für Gesundheits- und insbesondere Pflege-Personal. Dafür wurde sie im März 2024 vom Swiss Economic Forum als «Young Entrepreneur of the Year» ausgezeichnet.
Jüngst erlebte ich genau diese Situation in meinem nahen Umfeld: Eine hartnäckige Magen-Darm-Grippe, die einfach nicht weichen wollte. Hausmittel und Medikamente aus der Apotheke schienen machtlos. Als Pflegefachfrau wusste ich, dass die richtige Lösung eine intravenöse Flüssigkeitszufuhr mit Vitaminen wäre. Aber gerade ich, die stets predigt, das Gesundheitssystem nicht unnötig zu belasten – erst recht nicht den Notfall im Spital – stand vor einem Dilemma: Kein Hausarzt in Sicht.
Woher sollten wir die Infusion herbekommen? Dank meines beruflichen Hintergrunds und eines aussergewöhnlichen Freundeskreises, zu dem eine leitende Ärztin der Inneren Medizin und eine Spitex-Inhaberin gehören, konnte ich die angedachte Therapie via «Chat-Konsultation» bestätigen lassen, die nötigen Utensilien besorgen und die Situation selbst in die Hand nehmen: Ein Klebenagel am Fenster, der Esstisch wurde desinfiziert, die Infusion vorbereitet, die Leitung gelegt – und während im Hintergrund ein Netflix-Film lief, vergingen 2,5 Stunden mit der Infusion.
Am nächsten Morgen war mein «Patient» wieder fit. Die Kosten für unser Gesundheitssystem: 0 Franken.
Ich bin mir natürlich bewusst, dass dies ein Ausnahmefall war, begünstigt durch meine Ausbildung und mein Netzwerk. Aber ist es nicht an der Zeit, dass solche Lösungen nicht nur zufällig oder durch richtiges Netzwerk möglich sind? Wenn unser Gesundheitssystem flexibler und mutiger wäre, könnten wir viele solcher Bagatellen effizienter und kostengünstiger behandeln.
«Die Resonanz war eindeutig: Wir brauchen mehr Flexibilität in der Gesetzgebung und mehr Vertrauen in die Kompetenzen der Pflegenden.»
Die offensichtliche Antwort: Hospital@Home. Dieses Konzept, Krankenhausbehandlungen oder eben auch einfache «ambulante ärztliche» Interventionen ins häusliche Umfeld zu verlagern, hat das Potenzial, unser Gesundheitssystem zu revolutionieren. Es geht dabei nicht nur um Effizienz, sondern auch um die Würde und den Komfort der Patienten.
Es gibt bereits vielversprechende Ansätze: Mobiles Röntgen, das heute schon in Pflegeheimen zur Ausschlussdiagnostik genutzt wird – warum nicht auch zu Hause? Stellen wir uns vor, wie hilfreich es wäre, wenn auch ein junger Patient mit unklaren Schmerzen nicht den mühsamen Weg ins Spital antreten müsste, sondern diese Diagnostik zu Hause stattfinden könnte.
Begrüssenswerte Ausnahme
Ein anderes Beispiel erlebte ich selbst in einem Pflegeheim: Ein Bewohner litt an einem Harnverhalt und einer schweren Entzündung. Der Rettungsdienst kam zwar ins Heim (unnötigerweise – aber halt als heutige Norm), aber statt als weitere «Norm» den Patienten ins Spital zu bringen, wurde vor Ort ein Blasenkatheter gelegt und eine Kurzinfusion mit Antibiotika verabreicht.
Das nenne ich ebenfalls «ambulant vor stationär» in seiner besten Form. Diese Art der Versorgung war in meinen 17 Jahren Berufserfahrung eine seltene, aber umso begrüssenswertere Ausnahme.
Nach meinem persönlichen Hospital@Home-Erlebnis suchte ich das Gespräch mit Kollegen aus dem ambulanten Spitex-Bereich. Es wäre doch spannend für die Spitex und auch sehr attraktiv für Pflegefachpersonen, dort zu arbeiten. Die Resonanz war eindeutig: Wir brauchen mehr Mut zur Innovation, mehr Flexibilität in der Gesetzgebung und mehr Vertrauen in die Kompetenzen der Pflegenden. Wenn wir es ernst meinen mit «ambulant vor stationär», dann müssen wir solche neuen Wege beschreiten.
«Mein Appell an die Gesetzgeber: Habt den Mut, kreative Lösungen zuzulassen.»
Doch die Umsetzung von «Hospital @ Home» in der Schweiz steht vor erheblichen Herausforderungen:
- Der gesetzliche Rahmen ist kaum auf innovative Versorgungsmodelle ausgelegt, was Unsicherheiten bei der Haftung und Erstattung durch die Krankenkassen mit sich bringt.
- Hinzu kommen organisatorische und logistische Herausforderungen: Die Koordination zwischen den verschiedenen Akteuren – Spitäler, Hausärzte, Pflegedienste – ist komplex und erfordert erhebliche Investitionen in Personal und Technologie.
- Die Infrastruktur, insbesondere in ländlichen Gebieten, ist nicht überall ausreichend, um die notwendige Fernüberwachung und allenfalls nötige Telemedizin zu gewährleisten.
- Datenschutz und Datensicherheit stellen weitere Hürden dar.
Gemeinsamer Weg
Doch trotz dieser Herausforderungen bietet «Hospital@Home» in der Schweiz eine vielversprechende Zukunft. Wir könnten ein Gesundheitssystem schaffen, das nicht nur effizienter, sondern auch menschlicher ist; ein System, das die Patienten dort versorgt, wo sie sich am wohlsten fühlen – daheim.
Mein Appell an die Gesetzgeber: Habt den Mut, kreative Lösungen zuzulassen. Wenn wir es wirklich ernst meinen mit «ambulant vor stationär» und der Senkung der Gesundheitskosten, dann ist «Hospital @ Home» der Weg, den wir gemeinsam beschreiten sollten.