Woher kommt die vielbeklagte Mengenexplosion im Gesundheitswesen? Egal ob ich mit Entscheidungsträgern aus der Politik, von Krankenkassen oder mit Berufsangehörigen aus der Spital-, Heim-, Spitex-Industrie spreche: Die Antworten sind immer die gleichen. Wir haben Fehlanreize im System und ein «Silo-Denken». Die selbsternannten «weissen Schafe» leiden darunter, die «schwarzen Schafe» ziehen ihren Profit daraus: So der Konsens.
Die Baustellen sind also erkannt, doch das Silo-Denken ist nach wie vor vorhanden und die Tarifstruktur veraltet. Ja, Efas kommt, Tardoc löst Tarmed ab, man spricht davon, die DRGs zu überarbeiten. Doch auch diese Tarife werden fast immer isoliert betrachtet.
Wenn wir jedoch bedenken, dass wir immer mehr chronisch kranke Menschen und eine alternde Bevölkerung behandeln, dann müssen wir endlich Tarife für das gesamte Ökosystem anstreben.
Alessia Schrepfer ist ausgebildete FaGe sowie Dipl. Pflegefachfrau BSc FHO und hat einen Master in gerontologischer Pflege ZHAW. 2022 (mit-)gründete sie WeNurse, einen Freelance-Pool für Gesundheits- und insbesondere Pflege-Personal. Dafür wurde sie 2024 vom Swiss Economic Forum als «Young Entrepreneur of the Year» ausgezeichnet.
Eine Anekdote dazu: Ich bin wegen meines Krankenkassenmodells in einem Gesundheitszentrum als potenzielle Patientin angemeldet. In diesem Zentrum arbeiten verschiedene Fachärzte sowie Psychologen, und ich glaube, es gibt sogar eine Physiotherapie.
Interprofessionalität unter einem Dach – geniale Idee. Aber wird hier eine gegenseitige und patientenorientierte Zuweisung praktiziert? Gibt es ein gemeinsames Dokumentationssystem oder einen gemeinsamen Rechnungssteller? Fehlanzeige.
Ein grundlegendes Problem ist, dass unser Tarifsystem extrem reaktiv statt präventiv ist. Pflegefachleute und Mediziner stehen – überspitzt gesagt – täglich vor der Entscheidung: Soll ich mit Mehraufwand, der oft nicht kostendeckend ist, Präventionsmassnahmen einleiten? Oder muss ich, um kostendeckend sein, einfach gemäss dem Tarifsystem arbeiten und daher mehr auf Reaktion setzen?
Beispiel 1: Diabetes Typ II:
Ein Diabetologe hat keinen finanziellen Anreiz, einen Typ-2-Diabetiker vom Insulin wegzubringen. Viel lukrativer sind die regelmässigen vierteljährlichen Sprechstunden und Insulinanpassungen im 15-Minuten-Sprechstunden-Takt. Eine Patientenedukation ist zeitlich viel aufwändiger und mühsamer (und nicht jeder Patient und jede Patientin ist bereit, den Lebensstil zu ändern). Selbst wenn Arzt und Patient motiviert sind, macht es aus finanzieller Sicht kurzfristig keinen Sinn.
Und so wird das Silo-Denken zu einem Problem der gesamten Gesundheitskaskade – Pflegeheime, Spitex, Arbeitswelt und Krankenkassenprämien: Der Diabetiker wird älter und in der Regel zunehmend adipöser, was weitere Erkrankungen nach sich zieht. Irgendwann landet er bei der Spitex oder im Pflegeheim, was dort zu mehr Aufwand führt und körperlich anstrengender für das Personal ist.
Beispiel 2: Prävention im Pflegeheim:
Ein weiteres Beispiel für Fehlanreize im Gesundheitssystem betrifft die Pflegeabrechnung im Pflegeheim (RAI). Je pflegebedürftiger ein Bewohner ist, desto höher ist der finanzielle Ertrag für das Pflegeheim. Das bedeutet, dass besonders körperlich pflegebedürftige Menschen wirtschaftlich lukrativer sind.
Ein mobiler, leicht demenziell erkrankter Mensch erfordert oft mehr Aufwand und Betreuung als ein bettlägeriger Bewohner. Trotzdem wird er mit einem niedrigeren Tarif vergütet.
Das Pflegepersonal bemüht sich dennoch, die Mobilität der Bewohner:innen zu erhalten, nicht aus finanziellen Gründen, sondern wegen des Berufsethos.
Aus Sicht der Kassen und Selbstzahler geht es um eine möglichst niedrige Rechnung vom Pflegeheim, gleichzeitig aber gibt es die Erwartung, dass Prävention und gute Pflege- und Betreuungsqualität gewährleistet wird.
Andererseits könnte der wirtschaftliche Druck im Pflegeheim dazu führen, dass Präventionsmassnahmen weiter abnehmen. Mit der weiteren Folge, dass sich der Fachkräftemangel verschärft und so weiter. Am Ende entstehen trotzdem wieder höhere Kosten für alle.
Ambulant vor stationär: Der Trend, der kommen wird
Der Trend geht – mit Efas – in die richtige Richtung. Etwas zu langsam, aber immerhin.
«Ich gehe sicher nie ins Pflegeheim» lautet wohl eine Hauptaussage der Babyboomer, also jener Generation, die heute den grössten Teil der Wählerinnen und Wähler ausmacht. Es ist also völlig klar, dass die Politik auf die Karte ambulant setzt.
Ambulant vor stationär bedeutet aber auch, dass der Anteil der Spitex-Angestellten steigen muss, ob in der Pflege oder mit «Hospital@home»-Tätigkeiten. Es bedeutet, dass sich Berufsgruppen, die sich gewohnt sind, «stationär» zu arbeiten, in neuen Arbeitsmodellen zurechtfinden müssen.
«Als Standardlösung gilt nun die Angehörigenpflege. Aber sprechen wir nicht genauso davon, dass wir junge Mütter zurück in die Arbeitswelt holen wollen, weil wir zu wenige Fachkräfte haben?»
Derzeit setzt eine ambulante Betreuung voraus, dass zuverlässig Termine vereinbart werden können. Sobald jemand nicht selbst zur Toilette kann oder «akuter» und ungeplanter betreut werden muss – etwa bei einer Demenzerkrankung –, funktioniert dieses Modell nicht mehr.
Als Standardlösung gilt derzeit die Angehörigenpflege. Aber realistisch gesehen, wird dies auch künftig eine Minderheits-Beitrag sein. Sprechen wir in der Politik nicht genauso davon, dass wir junge Mütter zurück in die Arbeitswelt holen wollen, weil wir zu wenige Fachkräfte haben?
Doch es gibt ja auch schon innovative Institutionen, die etwas wagen. Ein aus meiner Sicht sehr vielversprechendes Projekt ist das
«Réseau de l'Arc»-Modell von Swiss Medical Network. «Das Projekt forciert eine Fokus-Veränderung vom 'Sick Care' zu 'Health Care», hörte ich bei einem Referat dazu. Im Mittelpunkt waren nicht «nur» die Ärzte, sondern interprofessionelle Kompetenzprofile, die durch die «Full Capitation»-Finanzierung (Integrierte Versorgung) möglich ist. Also weg vom «Fee-for-service» (wie in der traditionellen Erstattung). Und weg von der Frage, welche Berufsgruppe welchen «Tarifwert» hat.
«Der Fachkräftemangel könnte deutlich verringert werden, wenn alle entsprechend ihrer Kompetenzen eingesetzt würden.»
Das führt zum nächsten Thema: Ist der Fachkräftemangel wirklich so extrem – oder sind die unterschwelligen «Machtspiele» zwischen den Berufsgruppen das Problem? Meine steile These: Der Fachkräftemangel könnte deutlich verringert werden, wenn alle entsprechend ihrer Kompetenzen eingesetzt würden. Die Berufszufriedenheit stiege, und die Verantwortung könnte auf mehrere Schultern verteilt und eingefordert werden.
Alte Hierarchien
Denn wir haben vielleicht zu wenige Fachpersonen, aber wir haben definitiv zu viele Fachpersonen, die nicht kompetenzgerecht eingesetzt werden. Und so müssen wir entweder die Akademisierung von Pflege, Therapeuten, Hebammen und Co. stoppen – oder wir durchbrechen die alten Hierarchien. Ich bin klar für die zweite Variante und überzeugt, dass dies für alle ein Gewinn wäre.
Was zeigen all diese Beispiele? Sie zeigen, dass die Baustellen hinter der Kostenexplosion zwar erkannt werden – dass wir uns jedoch oft reaktiv auf Symptombekämpfung beschränken. Dass wir nicht bei den offensichtlichen Ursprüngen der Problematik ansetzen.
Wollen wir eine ernsthafte Veränderung, dann müssen wir dort ansetzen, wo es unbequem ist. Dies erfordert meiner Meinung nach auch einen massiven Kulturwandel für viele von uns.
Ich bin optimistisch, dass wir früher oder später die Kurve kriegen. Die Frage ist nur: Muss das System zuerst komplett kollabieren und neu aufgebaut werden? Oder starten wir jetzt mit den nötigen Reparaturen? Ich hoffe auf Letzteres. Dafür aber müssen wir gemeinsam an einem Strang ziehen und das Silo-Denken abbauen.
Aber was braucht es dafür?