Von wegen Sommerloch! Hektische Aufregung füllt die Spalten. Eine Kakophonie prasselt auf uns nieder: Jammern über den Niedergang des Gesundheitswesens, Absondern guter Ratschläge, wie diesem beizukommen sei. Hämisch-zürnende Kommentare über das linkische Wursteln der Kantone zur Ausgleichung der ärztlichen Versorgungsschieflage. Hängeringend hilflose Klagen über weglaufendes Fachpersonal (unter genüsslichem Voyeurismus, wie sich unterschiedliche Generationen zur Arbeitsmoral zoffen). Spotten über das stehengebliebene EPD und Beweinen unserer Hinterwäldlerposition bei der Digitalisierung (während parallel dazu digitale Insellösungen ab Band gelassen werden, als wollte man der Fast Fashion Industrie den Rang ablaufen).
«Alle stehen auf oder neben dem Spielfeld und fuchteln schreiend herum. Nur einer nicht.»
Alle stehen auf oder neben dem Spielfeld und fuchteln schreiend herum. Nur einer nicht. Der … äh, wie nennen wir ihn schon wieder? Kunde? Klient? Nutzer? Behandelter? (Das Gendern lasse ich jetzt mal provokativ weg)
Nein, er schreit nicht, denn er steht ja im Mittelpunkt, der Patient. Klicken Sie mal auf die Website einer x-beliebigen Gesundheitsinstitution, dort steht er. Prominent im Zentrum. Umworben, umschmeichelt und gehuldigt steht er, wie ein goldenes Kalb, das gut gemästet sein will. Steht er da und schweigt.
Was ist, wenn wir ihn aus der Mitte nehmen? Aus dem Kreuzfeuer sich überkreuzender Interessen, die in ihm den Kunden, den Wähler, den zahlenden Nutzer sehen, der am besten schweigt und tut, was man von ihm erwartet, als Patient. Was ist, wenn wir ihm eine Stimme geben? Eine Handlungsmacht. Die über das hinausgeht, was er als Behandelter tun und lassen soll. Eine Handlungsmacht in eigener Sache? Ihn aus dem Zentrum nehmen und dafür sein Problem hineinstellen. Das, was es zu behandeln, zu versorgen, zu bewältigen gilt? Mit ihm als Eigner des Problems vorneweg – oder zumindest im Kreis mit allen anderen zusammen.
«Dabei wäre es einfach, den Patienten mit ganz viel Prävention so schad- und klaglos zu halten, dass er als gesunder Hochbetagter still und ausgabenschonend stirbt.»
Gemach, werden Sie sagen, das tun wir ja. Wir fragen ihn, ob er das Fernsehprogramm gut findet und ob er vegan oder glutenfrei essen möchte. Ob das Pflegepersonal lieb ist und der Arzt verständlich mit ihm spricht. Ob er das Spital/das Heim/die Praxis weiterempfehlen würde, wenn man ihn danach fragt.
Und wir hoffen, dass er glücklich und zufrieden geht und möglichst nicht mehr wiederkommt, da gut und abschliessend behandelt. Und wenn doch, liegt es an ihm, seinem ungesunden Lebenswandel, seiner konsumistischen Haltung, seiner krämerischen Einstellung, Gesundheitsleistungen als Gegenrecht zur Prämienzahlung zu betrachten. Dabei wäre es einfach, ihn mit ganz viel Prävention so schad- und klaglos zu halten, dass er als gesunder Hochbetagter still und ausgabenschonend stirbt.
«Die letzten Lebensjahre und -monate sind die teuersten, egal wie viel Prävention man vorne reinsteckt.»
Doch das tut er nicht. Und so einfach ist es nicht. Die letzten Lebensjahre und -monate sind die teuersten, egal wie viel Prävention man vorne reinsteckt. Und eine erfolgreiche Medizin verhindert keine chronischen oder degenerativen Erkrankungen, sie verschiebt sie bloss. In spätere Sphären, in neue Gebiete.
Am Schluss ist Leiden immer aufwändig und Sterben immer teuer. Weltweit. Egal, wie das Versicherungskonstrukt oder das Versorgungssystem ausgestaltet ist. Da nützt alles Schreien nix. Und die fehlenden «Versorger» lassen sich auch nicht einfach so durch digitale Lösungen ersetzen. Wir müssen die von gesundheitlichen Problemen Betroffenen in die Lösungsfindung einbeziehen, sie zu Handelnden machen und nicht zu Behandelten. Vor allem, wenn ihre gesundheitlichen Probleme vielschichtig und vielfältig werden – und das ist im Verlauf des Lebens nahezu unvermeidbar, sofern man nicht schlagartig ablebt (was ja auch nicht das Ziel sein kann).
Der Patient gehört nicht in den Mittelpunkt. Er gehört ins Drumherum.
Montreal macht’s vor.
Annamaria Müller ist Präsidentin Schweizer Forum für Integrierte Versorgung (fmc) und Verwaltungsratspräsidentin der Freiburger Spitäler HFR.