In meiner Funktion als Mitgründerin von StrukturELLE werde ich oft gefragt, welche Veränderungen notwendig sind, damit Frauen und Männer als Ärzte und Ärztinnen gleichberechtigt sind und was das Gesundheitswesen nun braucht.
«Die Führung im Gesundheitswesen ist aber in ihrem streng hierarchischen Aufbau stehen geblieben und nimmt die veränderten Bedürfnisse der Basis nicht wahr.»
Heute sind mehr als 70 Prozent der Mitarbeitenden im Gesundheitswesen weiblich. In den oberen Hierarchiestufen sind Frauen aber massiv untervertreten, dies im medizinischen- und im Verwaltungssektor. Gemäss FMH sind weniger als 15 Prozent der Chefarztpositionen weiblich besetzt, in den Direktionen sitzen fast ausschliesslich Männer, Verwaltungsrätinnen gibt es kaum, Verwaltungsratspräsidentinnen sind die Ausnahme. Es ist als ob die Eskimo über den Tagesablauf der Tuareg bestimmen. Verschiedene Mechanismen haben uns dahin gebracht, wo wir heute stehen. In der Geschichte ist die Medizin und ihre Institutionalisierung ein militärisches und streng hierarchisches Unterfangen. Spitäler entstanden im Umfeld von Kriegen. Es wuchs eine Umgebung in der die Götter in Weiss praktizieren und Göttinnen in Weiss undenkbar sind. Die Zeit ist vorangeschritten und seit dem zweiten Weltkrieg hat sich die Struktur unserer Gesellschaft stark verändert. Die Führung im Gesundheitswesen ist aber in ihrem streng hierarchischen Aufbau stehen geblieben und nimmt die veränderten Bedürfnisse der Basis nicht wahr. Die Eskimo verstehen nicht, warum die Tuareg sich vor der Sonne schützen müssen. Es sind strukturelle Veränderungen notwendig. Eine Kooperationskultur zwischen den verschiedenen Berufsgruppen muss entwickelt werden, damit die medizinische Versorgung für die Patienten und Patientinnen gut ist und alle beteiligten Akteure und Akteurinnen eine gute Leistung erbringen können.
«Noch heute werden Medizinstudentinnen bei Studieneintritt darauf hingewiesen, dass sie entweder Kinder haben oder Karriere machen können.»
Die Mitarbeitenden, egal welcher Berufsgruppe, müssen Freude am Beruf haben, es muss Entwicklungsmöglichkeiten geben und sie müssen Wertschätzung erfahren. Das Gesundheitswesen muss sich nachhaltig entwickeln und es muss schonend mit menschlichen und materiellen Ressourcen umgegangen werden. Dies mit dem Ziel, dass die Ausgebildeten auch wirklich im Gesundheitsberuf bleiben und damit die Funktionalität unseres Gesundheitswesens langfristig garantieren. Die systematische Diskriminierung des weiblichen Geschlechtes mit fehlenden Entwicklungsmöglichkeiten und der Unvereinbarkeit einer Karriere mit sozialen Verpflichtungen ist eines der grossen Probleme, welches sofort angegangen werden muss. Der Begriff «Leaky Pipeline» beschreibt das Phänomen, dass mit steigender akademischer Position der Anteil der Frauen sinkt und jener der Männer steigt. Je steiler die beiden Kurven verlaufen, desto grösser ist der Unterschied zwischen den Aufstiegschancen, die dem Nachwuchs des jeweiligen Geschlechts offenstehen. Noch heute werden Medizinstudentinnen bei Studieneintritt darauf hingewiesen, dass sie entweder Kinder haben oder Karriere machen können. Medizinstudenten passiert das nicht. Durch den Leaky Pipeline Effekt entstehen hohe Kosten und ein relevanter volkswirtschaftlicher Schaden. Dieser zeigt sich in Form der aktuellen Krise im Gesundheitswesen.
«Damit der Gesundheitssektor erfolgreich reformiert werden kann braucht es Führungskräfte, die Erfahrung mit der Thematik Gleichstellung haben, damit diese auch innovative Ideen umsetzen können.»
An der Geschlechterverteilung in Führungsfunktionen kann gezeigt werden, dass Karrieren von Frauen systematisch ausgebremst werden. Dies hat negative Folgen: zum einen sind nicht konsequent die Besten an der Spitze, zum anderen entstehen den Frauen enorme, nicht nur ökonomische Nachteile und sie scheiden aus dem Beruf aus. Die monokulturartige Verteilung der Machtpositionen verhindert Fortschritt, da Weitsicht und die Diversifizierung von Ideen und Lösungsansätzen völlig fehlen. Investitionen gehen verloren und Innovationen werden verpasst.
Themen, die für Frauen und damit gesamtgesellschaftlich hoch relevant sind, werden nicht angemessen in Forschung und Bildung und damit nicht hinreichend in politisches und strategisches Handeln umgesetzt. Der Präsident des Arbeitgeberverbandes schlug vor kurzem vor, mehr Kindertagesstätten zu errichten, damit die Kinder von 07:30 bis 17:00 Uhr betreut werden. Dieser Vorschlag mag seinen persönlichen Tagesablauf abdecken, aber mit der Öffnungszeit 7:30 Uhr schliesst er die Mitarbeitenden im Gesundheitswesen aus, mit der Schliessung um 17:00 Uhr die Mitarbeitenden des Detailhandels. Damit der Gesundheitssektor erfolgreich reformiert werden kann braucht es Führungskräfte, die Erfahrung mit der Thematik Gleichstellung haben, damit diese auch innovative Ideen umsetzten können. Es muss ein Ende haben, dass die Eskimo den Tuareg die Strukturen vorgeben: beide leben ja auf der gleichen Erde und der Klimawandel zeigt, dass sie besser miteinander ins Gespräch kommen sollten. Tritt dieser Wandel nicht ein, wird das Gesundheitswesen weiter in seiner Abwärtsspirale drehen, die Kosten werden weiter steigen und die Qualität wird weiter abnehmen.
Natalie Urwyler, Ärztin und Gewinnerin des Doron Preises 2023.