Werfen wir die Flinte ins Korn

Auseinanderbauen, reparieren, zusammenschrauben. Dies mag bei der Rakete funktionieren, nicht jedoch bei einem komplexen System wie dem Gesundheitswesen.

, 17. Juni 2023 um 06:00
image
Sabina Heuss: «Die neue Denk- und Betrachtungsweise eines systemischen Ansatzes könnte als Richtschnur für die Transformation des Gesundheitswesens dienen». | zvg
Nichts zu machen, es ist aussichtslos. Das Gesundheitswesen lässt sich nicht steuern. Es lässt sich nicht einmal kontrollieren. Das liegt nicht an der Unfähigkeit der Menschen, die ihr Bestes geben, um das System zu kontrollieren. Auch nicht am fehlenden Willen, das Steuer des Systems zu übernehmen. Es liegt in der Komplexität des Gesundheitssystems, das von Natur aus nicht steuerbar und damit nicht kontrollierbar ist: Zu vielfältig sind die Interessen der Stakeholder, zu verflochten die Abläufe, zu unterschiedlich die Ansprüche, zu kompliziert und komplex ist das System. Also nichts zu machen. Wirklich?

«Die Unterscheidung von kompliziert und komplex ist im Zusammenhang mit dem Begriff System von entscheidender Bedeutung.»

Die Unterscheidung von kompliziert und komplex ist im Zusammenhang mit dem Begriff System von entscheidender Bedeutung. Komplizierte Systeme wie beispielsweise eine Rakete sind zwar schwer zu verstehen, sind aber durch Regeln und Wissen nachvollziehbar. Der schöne Ausdruck «it’s not rocket science» ist eigentlich falsch: Rocket Science ist nachvollziehbar, kompliziert ja, aber durchschaubar.
Komplexe Systeme hingegen zeichnen sich durch eine grosse Anzahl Elemente, umfangreiche Wechselwirkungen, Intransparenz und Zielkonflikte aus. Komplexe Systeme sind nicht reduzierbar und nahezu unüberschaubar. Beispiele für komplexe Systeme sind der Regenwald, das menschliche Gehirn oder eben das Gesundheitssystem.
Am Gesundheitssystem sind zahlreiche Akteure beteiligt, von Patientinnen und Bürgern über den Staat bis hin zu den Versicherungen und unterschiedlichsten Leistungserbringern. Die Interaktionen innerhalb des Systems sind umfangreich, miteinander verknüpft und bilden darüber hinaus eigene Sub-Netzwerke.

«Diese Komplexität, die Interdependenzen, die Fähigkeit, sich selbst zu organisieren und weiterzuentwickeln, machen es schwierig und oft unmöglich, ein komplexes System zu durchschauen.»

Das System ist offen. Es agiert mit weiteren gesellschaftlichen Systemen wie beispielsweise dem Wirtschaftssystem, dem Politiksystem und dem Wissenschaftssystem. Komplexe Systeme sind emergent. Sie entwickeln plötzlich neue Eigenschaften, die sich nicht aus der Summe der bestehenden Eigenschaften einzelner Akteure erklären lassen. Diese Komplexität, die Interdependenzen, die Fähigkeit, sich selbst zu organisieren und weiterzuentwickeln, machen es schwierig und oft unmöglich, ein komplexes System zu durchschauen.
Die Betrachtung des Gesundheitssystems als komplexes System lässt erkennen, warum Kontrolle und Steuerung des Systems so schwierig sind. Und erklärt auch, warum bisherige Änderungs- und Verbesserungsversuche nur geografisch kleinräumig ausgerichtet waren oder auf einen klar definierten Bereich des Gesundheitswesens abzielten wie zum Beispiel auf ein Abrechnungsverfahren für eine Behandlungsmethode.

«Auseinanderbauen, reparieren, zusammenschrauben. Dies mag bei der Rakete funktionieren, nicht jedoch bei einem komplexen System.»

Solche Versuche basieren auf der irrigen Annahme, Fehler in komplexen Systemen wie Fehler in komplizierten Systemen zu korrigieren: Auseinanderbauen, reparieren, zusammenschrauben. Dies mag bei der Rakete funktionieren, nicht jedoch bei einem komplexen System. Niemand ist allein «zuständig» für ein komplexes System, wie das Beispiel des Verhaltens von Vögeln in einem Schwarm veranschaulicht. Es kann daher weder top-down «geheilt» werden, noch ist eine einzelne Düse oder Schraube (single point of control) für das Funktionieren des Gesamtsystems zuständig.
Eine grundlegende Veränderung in einem komplexen System kann nur durch eine Gesamtsystemänderung herbeigeführt werden, wie sie in einem systemischen Ansatz zu finden ist. Ein systemischer Ansatz trägt der Komplexität des schweizerischen Gesundheitssystems Rechnung und anerkennt, dass einzelne Akteure innerhalb des Systems nicht gesteuert und kontrolliert werden können.

«Nur durch den Einbezug aller Akteure und ein gemeinsames Systemziel kann ein anpassungs- und widerstandsfähiges, finanziell und sozial tragbares und nachhaltiges Gesundheitssystem entwickelt werden.»

Nur durch den Einbezug aller Akteure und ein gemeinsames Systemziel kann ein anpassungs- und widerstandsfähiges, finanziell und sozial tragbares und nachhaltiges Gesundheitssystem entwickelt werden. Für das Erreichen des Ziels stehen nicht die Kosten einer Aktivität im Vordergrund, sondern der Wert der Aktivität in Bezug auf das Ziel.
Die Aktivitäten der Beteiligten werden nicht kontrolliert, sondern der Wert der Aktivitäten wird belohnt, solange er dem gemeinsamen Ziel des Systems entspricht. Dies bedingt ein profundes Verständnis des gemeinsamen Ziels und die Wertschätzung aller Systembeteiligten. Daher spricht der systemische Ansatz weniger von Steuerung und Kontrolle als von Designing oder Gestaltung.

«Erst wenn wir die systemische Natur des Gesundheitswesens akzeptieren, können wir beginnen, es zu gestalten, anstatt zu kontrollieren.»

Erst wenn wir die systemische Natur des Gesundheitswesens akzeptieren, können wir beginnen, es zu gestalten, anstatt zu kontrollieren. Wir können es gemeinsam weiterentwickeln, statt brachial zu versuchen, das System in eine Richtung zu steuern. Komplexe Systeme lassen sich eben nicht steuern. Diese philosophisch anmutende Betrachtungsweise des Systems führt dazu, dass die Beteiligten das System, die Ziele und die Auswirkungen des eigenen Handels verstehen, schätzen und Anreize haben, diese zu verfolgen.
Es ist eine grosse Herausforderung, die radikale Neugestaltung des Gesundheitswesens anzupacken. Doch in der System-, Transformations- und Changeforschung gibt es validierte und innovative Ansätze, die herbeigezogen werden könnten, um die Komplexität zu bewältigen, siehe zum Beispiel Systemic Innovation, Systemic Design. Die Forschungsmethoden beruhen auf partizipativen Modellen, langfristigen Prozessen, dem Einbezug aller Systemakteure, der Erleichterung interdisziplinärer Interaktionen und der Incentivierung von Innovation.
Diese neue Denk- und Betrachtungsweise eines systemischen Ansatzes könnte als Richtschnur für die Transformation des Gesundheitswesens dienen. Einen Versuch wäre es wert, bevor wir die Flinte endgültig ins Korn werfen.
Sabina Heuss ist Professorin an der School of Business, Institute for Competitiveness and Communication, der Fachhochschule Nordwestschweiz.

  • gastbeitrag
  • sabina heuss
Artikel teilen

Loading

Comment

Mehr zum Thema

image

Künstliche Intelligenz als mögliche Lösung des Fachkräftemangels…?

«Wir können es uns nicht mehr leisten, dass gut ausgebildeten Mitarbeitenden für Funktionen eingesetzt werden, die durch Künstliche Intelligenz ausgeführt werden könnten», sagt der ehemalige Spitaldirektor Beat Straubhaar im Gastkommentar.

image

Die Info-Kampagne zum EPD ist zum Scheitern verurteilt

«Solange Ärztinnen und Ärzte keinen Nutzen haben, können sie auch keine Patienten vom EPD überzeugen», sagt Anna Winter, die Präsidentin IG eHealth,

image

Tardoc und kantonale Höchstzahlen – eine toxische Mischung

In diesem Gastbeitrag erläutert Florian M. Buck, welche Auswirkungen der Tardoc-Tarif und die festgelegten Höchstzahlen für Ärzte auf unser Gesundheitssystem haben.

image

Keine Mehrheit für mehr staatliche Steuerung

Die Gesundheitskommission (NR) will nichts von neuen staatlich beaufsichtigten und gesteuerten Leistungserbringer im Gesundheitswesen wissen. Sie hat sich klar gegen die Schaffung von «Netzwerken» entschieden. Das ist gut so. Als Alternative soll die freiwillige Kooperation gestärkt werden.

image

Lernen von den Klassenbesten – auch bei eHealth!

Peter Indra empfiehlt, dass die Schweiz von Estland lernt und dabei die staatliche Kontrolle über Gesundheitsdaten bewahrt, anstatt sie privaten Unternehmen zu überlassen.

image

Das Gesundheitswesen am Abgrund?

Natalie Urwyler schreibt über die Gleichberechtigung von Frauen und Männern in der Medizin. Die bekannte Ärztin hält strukturelle Veränderungen für erforderlich.

Vom gleichen Autor

image

«Kritiker der Komplementärmedizin haben eine zu einseitige Sicht»

SP-Ständerätin Franziska Roth kritisiert im Interview die Haltung von Gegnern der Komplementärmedizin. Sie verkennen den Wert der ärztlichen Expertise.

image

Physiotherapie: Die Stolpersteine im Tarifstreit

Wie weiter im Tarifstreit in der Physiobranche? Die Frage ist: Welcher Streit – jener über die Tarifstruktur oder jener über den Preis?

image

So funktioniert die Sterbehilfe in Europa

In mehreren Ländern Europas ist die Sterbehilfe entkriminalisiert worden. Ein Überblick.