Covid-19-Sterblichkeit in Heimen: «Es braucht eine Untersuchung»

Recht auf Freiheit oder Lebensqualität: Eine Gruppe von Medizin-Ethikern kritisiert die Zustände in der Langzeitpflege während der Corona-Pandemie. Und liefert Verbesserungsvorschläge.

, 2. Juli 2020 um 07:50
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Tageslicht, Bewegung, frische Luft und soziale Zuwendung: Gewisse Rechte müssten auch in ausserordentlichen Lagen zugestanden werde­n, finden Medizin-Ethiker. | pxhere CC0 
Die Covid-19-Pandemie habe die hohe Verletzlichkeit von Menschen in Pflegeeinrichtungen gezeigt, in Alters- und Pflege-Heimen, Heimen für Menschen mit psychischen Erkrankungen oder Behinderungen. Dieser Ansicht ist eine Gruppe von Medizin-Ethikerinnen und Medizin-Ethikern aus der Schweiz.
So habe sich etwa gezeigt, dass für viele Heim-Bewohnende die räumliche und soziale Isolation zu einem raschen kognitiven Abbau und körperlichem Zerfall führe, speziell bei demenzbetroffenen Menschen. Und dies bringe nicht selten Folgerkrankungen mit sich, die bis zum Tod führen können.

Appell an Politik, Management, Pflege und Betreuung

Zudem vermochte in der Schweiz die rigide Abschottung nicht zu verhindern, dass sich über die Hälfte der Todesfälle der Corona-Pandemie in Alters- und Pflegeheimen ereignete. Gründe seien unter anderem die teilweise zögerliche Ausstattung mit Schutzmaterial und die Erarbeitung von Schutzkonzepten, die auch ambulante Spitex-Dienste betrafen.
Die Medizin-Ethikerinnen und Medizin-Ethiker richten nun eine Appell an die Verantwortungsträger aus Politik und Behörden, Management, Pflege und Betreuung. Auch mit Blick auf eine erneute Pandemiewelle. In zehn Punkten halten sie ihre Empfehlungen fest. 
  1. Die Freiheitsrechte von Menschen in Langzeitpflege sind auch in einer Pandemie zu gewährleisten.
  2. Enge Angehörige müssen Zugang haben zu urteilsunfähigen Personen.
  3. Es braucht eine Untersuchung der hohen COVID-19-Sterblichkeit in den Alters- und Pflegeheimen.
  4. Das Vertrauen in die Behörden und in die Institutionen ist zentral in Pandemiesituationen.
  5. Strukturelle Probleme in den Pflegeeinrichtungen verschärfen die Belastungssituation. Dazu gehören etwa: ein schlechter Skills-Grade-Mix, Personalmangel,  ein Mangel an Schutzmaterial, Schutzkonzepten und Massnahmen zur Früherkennung von Infizierten.
  6. Hospitalisationskriterien für Heimbewohner müssen den nationalen Standards folgen, ohne zusätzliche Hürden.
  7. Langzeiteinrichtungen profitieren von Strukturen, die zu einer aktiven Fehlerkultur beitragen (z.B. Critical Incident Reporting Systems).
  8. Über Infektionen und die pflegerische Versorgung in den einzelnen Heimen ist transparent zu informieren.
  9. Bei einer erneuten Pandemiewelle sind die Persönlichkeitsrechte der Bewohner auch unter Isolationsbedingungen zu gewährleisten. Zum Beispiel: Zugang von engen Bezugspersonen oder Fachpersonen, Recht auf Tageslicht, Bewegung, frische Luft und soziale Zuwendung.
  10. Die Auswirkungen der Pandemie auf Heimbewohner, Angehörige und Fachpersonen sollen erforscht werden und die Ergebnisse in den politischen Diskurs einfliessen. 
Der Appell «Lebensschutz und Lebensqualität in der Langzeitpflege» wurde von über 100 Personen aus der ganzen Schweiz unterzeichnet. Zum Beispiel von Nikola Biller Andorno, Thierry Fumeaux oder Samia Hurst. Die Liste der Unterzeichnenden finden Sie hier. 
Mehr/Quellen:
«Pandemie: Lebensschutz und ­Lebensqualität in der Langzeitpflege», in: «Schweizerische Ärztezeitung», 1. Juli 2020.
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