Gewitterwolken türmen sich am Himmel über dem Bodensee. Warmer Frühlingswind lässt eine Plastiktüte vom Boden aufwirbeln. Der Perron im Bahnhof Münsterlingen-Scherzingen ist menschenleer.
Ein paar Strassen entfernt leuchten golden die Zeiger der Turmuhr der Kirche Scherzingen. Diese wurde 1617/18 erbaut und gilt als das älteste evangelisch-reformierte Gotteshaus im Kanton Thurgau. Wenige Schritte weiter befindet sich eines der wenigen weitgehend autarken Minihäuser der Schweiz.
Sträucher, eine Nordmanntanne und drei Föhren umgeben das Tiny House, das aus Massivholz mit einer unbehandelten Lärchenfassade gefertigt wurde. Eine Holztreppe, die durch die Witterung eine silbergraue Patina angesetzt hat, führt zur Veranda. Ein Stuhlpaar und ein Tischchen sind da platziert, und im Türrahmen steht Bernhard Liepelt.
Einstiger Leiter der Heime Uster
Der 62-Jährige ist seit 2014 Zentrumsleiter des Alterszentrums Park in Frauenfeld. Zuvor hatte er die Gesamtleitung der Heime Uster inne, noch vorher leitete er unter anderem eine sozialpädagogische Einrichtung für erwachsene Menschen mit einer Behinderung.
In seinen jungen Jahren machte Liepelt, der in Bad Honnef am Rhein aufwuchs, die Pflegeausbildung. Nach einigen Berufsjahren begann er noch Medizin zu studieren, nach zwei Semestern brach er aber ab und entschied sich für eine Ausbildung im Bereich Management im Gesundheits- und Sozialwesen.
«Das Immunsystem der ganzen Pflege ist reduziert»
Als Zentrumsleiter des Alterszentrums Park ist er verantwortlich für rund 265 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Zurzeit sind in der Frauenfelder Institution zehn Stellen unbesetzt, sechs davon im Pflegebereich. Auch Liepelt bereitet der Mangel an Pflegekräften hierzulande Bauchschmerzen: «Der Pflegenotstand ist eine grosse Herausforderung, eine Realität, die unseren Alltag bestimmt.» So viele Ressourcen seien nur damit beschäftigt, Lücken zu stopfen, sagt er. «Das ist für alle wahnsinnig zermürbend.»
Die Corona-Pandemie habe das Ganze noch verstärkt; das System, welches sowieso schon gefordert gewesen sei, sei zusätzlich geschwächt worden. «Das Immunsystem der ganzen Pflege ist reduziert.» Liepelt findet es gut, dass die Pflegeinitiative angenommen wurde. Was ihm jedoch Sorgen bereitet, ist deren Umsetzung: «Es braucht eine Veränderung, und zwar jetzt. Es braucht Lösungen, wie neue Wege gegangen werden können.»
Von Kalifornien nach Scherzingen
Der 62-Jährige setzt sich in die Essecke, an den Tisch aus Massivholz, auf einen Stuhl mit Fellkissen. Es riecht erdig und nach Holz, hier im nahezu gänzlich autarken Tiny House, das neben dem Wohnhaus von Liepelt und seiner Partnerin, Regula Senn, im Garten steht. Über 1’000 Gäste hätten in ihrem Minihaus schon übernachtet – zwei Gästebücher seien bereits voll, sagt Liepelt. Die Gäste kommen hauptsächlich aus Deutschland, Österreich und der Schweiz, es sind aber auch schon Personen aus Frankreich, den Niederlanden oder gar von Kalifornien angereist, wie Liepelt erzählt.
«Unsere Gäste sind unterm Strich mehrheitlich bewusst unterwegs, haben sich mit Themen rund um Autarkie und Nachhaltigkeit auseinandergesetzt», sagt Liepelt. Viele seien nah dran, ihren Traum vom eigenen Tiny House zu verwirklichen.
Liepelt und seine Partnerin wissen, wie lange der Weg von der Idee bis zur Realisation dauert. Das Paar musste einige Hürden überwinden, an Verzweigungen innehalten: «Wie erhalten wir die Baubewilligung für unser Tiny House? Für welchen Hersteller und für welches Modell entscheiden wir uns? Solche und noch viele weitere Fragen beschäftigten uns», erzählt Liepelt.
Seit Juni 2019 steht der 14,5 Tonnen schwere, 33 Quadratmeter grosse und 200’000 fränkige Massivbau des Minihauses nun schon auf dem Grundstück von Senn und Liepelt. Das Paar gab ihm den Namen «Logis Freyja». Freyja, so heisst die nordische Göttin der Liebe und Ehe. Liepelt und seine Partnerin wählten den Namen jedoch primär wegen dem «Frey, ja!», das den Freiheits- und Unabhängigkeitsgedanken eines autarken Tiny House in sich trägt.
Strom, um das Brauchwasser zu erwärmen, kommt vom Dach der Freyja
Das Minihaus von Liepelt und Senn verfügt über eine Photovoltaik-Inselanlage, das heisst, es braucht keinen Strom vom öffentlichen Netz, es ist also netzunabhängig. Scheint viel Sonne, kann die überschüssige Energie im Stromspeicher für einen späteren Verbrauch zwischengespeichert werden. Scheint wenig Sonne, kann zur Aufbereitung von Warmwasser auf den wasserführenden Holzofen ausgewichen werden. Dieser sorgt direkt für wohlige Wärme, gibt aber den grösseren Teil der Wärmeenergie in den Pufferspeicher der Zentralheizung. Das Brauchwasser für das Tiny House kommt vom öffentlichen Wassernetz respektive vom Wohnhaus von Liepelt und Senn.
«Der Strombedarf kann durch sehr durchdachte Technik auf ein Minimum reduziert werden, ohne auf Licht, Wärme und aufs Kochen verzichten zu müssen», sagt Liepelt. Gekocht wird zum Beispiel, wenn viel Sonne scheint, auf dem Elektroherd – als Alternative bei wenig Sonnenschein dient ein Herd mit Bioethanol.
Auch das Wohnhaus von Liepelt und Senn setzt auf eigene Stromerzeugung, und dies schon seit sechs Jahren. Das Haus besitzt einen grossen Speicher, welcher als eigenes Hauskraftwerk fungiert. Hier wird die sogenannte Sektorenkoppelung umgesetzt, das heisst, Wärmeenergie wird durch eine Erdsonde mit der Hausenergie und der Elektro-Mobilität verknüpft. Liepelt und Senn konnten daher bei ihrem Tiny House in puncto autarkes Wohnen auf ihre Erfahrungen und ihr Wissen aufbauen.
Der Mensch als Teil des Universums
«Wer nachhaltig leben will, beginnt zunehmend in Kreisläufen zu denken», sagt Liepelt und fügt an: «Alles hängt miteinander zusammen. Ein autarker Lebensstil wirkt sich auch positiv auf die Gesundheit aus.»
Der 62-Jährige sieht den Menschen nicht als Mittelpunkt, sondern als Teil des Universums. Ein achtsamer Umgang mit den Ressourcen der Erde liegt ihm am Herzen: «Wir können nicht immer nur nehmen, aber nichts zurückgeben. Was ich in die Natur beziehungsweise in meine Umgebung gebe, kommt auch wieder zu mir zurück.»
Liepelt hat nicht eine Nach-mir-die-Sintflut-Haltung. Auf der Webseite von Senns und Liepelts Tiny House steht denn auch: «Uns verbindet unser Wunsch, die Erde, die Welt als einzigartigen Ort voller Wunder für uns und alle, die da kommen, natürlich auch für unsere Kinder und Enkel, nachhaltig und lebenswert zu beeinflussen und zu hinterlassen.»
Liepelt spricht das Gesetz von Saat und Ernte an: «Das, was ich tue, mein Handeln oder Unterlassen, hat direkte Konsequenzen – auch für mich selber.» Wir alle würden mit den Folgen unseres Verhaltens konfrontiert. Er holt etwas aus und sagt, wenn er etwa ein aggressives chemisches Reinigungsmittel für das Spülbecken im Minihaus benutzen würde, wären die Auswirkungen in der Pflanzenkläranlage, die das Abwasser naturnah reinige, nicht zu übersehen. Solche chemischen Stoffe könnten nicht mehr genügend abgebaut werden und seien deshalb eine grosse Belastung für die Umwelt.
Liepelt lässt zwei Mal im Jahr die Wasserqualität der Pflanzenkläranlage von einem Labor überprüfen. «Ich überlasse nichts dem Zufall», sagt er und versichert, die Qualität des Wasser sei jedes Mal ausgezeichnet gewesen.
Nachhaltig bis ins kleinste Detail
Liepelt steht vom Stuhl auf und macht eine Führung durch das Tiny House. «Diese Wand hier in der Essecke ist aus Lehm», sagt er und fügt an: «Das Naturmaterial hat eine besonders feuchtigkeitsregulierende Wirkung.» Er geht ein paar Schritte weiter und bleibt dann vor dem Schlafbereich stehen. Dieser ist leicht erhöht und befindet sich im Erker, der zum Transport eingefahren werden kann. In der Matratze des Boxspringbetts befänden sich keine Federn aus Metall, sondern welche aus gedrechseltem Holz, sagt Liepelt, ganz angetan vom Produkt. Liepelt beschäftigt sich gerne und intensiv mit verschiedenen Materialien und Produkten: «Es macht mir grossen Spass, alles durchzudenken.»
Liepelt steht nun in der Küche und zeigt auf den Wasserhahn, welcher einen Aufsatz besitzt, wo die Strömung eines Bachlaufs auf kleinem Raum imitiert wird: «Auf diese Weise wird mehr Luft angereichert und das Wasser wird zu gutem Trinkwasser – auf Mineralwasser in PET-Flaschen kann so gut verzichtet werden.»
Auch die Toilette im Badezimmer ist keine gewöhnliche. Liepelt erklärt, wie sich mithilfe der Trenntoilette der Urin von den Fäkalien separieren lässt. Letztere bilden eine gute Basis für die dunkle, humus- und nährstoffreiche Erde Terra Preta.
Diese besteht üblicherweise neben menschlichen Fäkalien aus Kompost sowie aus Holz- und Pflanzenkohle. Bereits einstige Hochkulturen im Amazonas-Gebiet hatten sich solchen nutzbaren Humus zusammengemischt.
Liepelt sagt: «Durch den Trennprozess der Toilette könnte der Natur nach einem entsprechenden Aufarbeitungsprozess wieder etwas zurückgeführt werden.» Allerdings gebe es seitens der Gemeinde die Auflage, die allenfalls entstandene Terra Preta nicht auszubringen beziehungsweise diese zu verbrennen, erklärt er.
«An meiner Frau ist eine Innenarchitektin verloren gegangen»
Im Bullauge über dem Lavabo des Badezimmers leuchtet sattes Grün – die Äste der Bäume bewegen sich hin und her. Die Grenzen zwischen aussen und innen verschmelzen. Liepelt und seiner Partnerin ist es gelungen, die Natur ins Tiny House zu holen. Das Konzept Nachhaltigkeit zieht sich wie ein roter Faden durch alle Bereiche. Liepelt sagt: «Wir möchten zeigen, dass es möglich ist, den Besitz zu reduzieren, was auch bedeutet, dass man sich auf das Wesentliche besinnt.»
Liepelt verlässt das Badezimmer, in der Küche betätigt er einen der Lichtschalter: Mini-Spots setzen drei weitere Bullaugen in Szene. Solche kleinen Spots seien bei allen Fenstern angebracht, sagt der 62-Jährige. Die Leuchtkraft der Mini-Lichter sei gross, obwohl diese eine Leistung von gerade einmal einem Watt hätten. Liepelt und Senn arbeiteten für die Lichtgestaltung mit einem Lichtarchitekten zusammen, die Innenausstattung des Tiny House haben sie selbst entworfen. «An Regula ist eine Innenarchitektin verloren gegangen», sagt Liepelt über seine Partnerin, die ausgebildete Kindergärtnerin ist.
Das weitgehend autarke Tiny House von Liepelt und Senn verfügt über eine Photovoltaik-Inselanlage. | Bild: Pia Simon
62 Kilometer Arbeitsweg mit dem E-Bike
Liepelt richtet seinen Blick auf eines der Bullaugen: Keine schäumenden Wellen, aber grüne Blätter sind sichtbar. Es gibt keinen Horizont, der sich hebt und senkt – eine Strasse ergänzt das Bild.
Auf dieser, der Dorfstrasse, fährt Liepelt ein Stück weit, wenn er zur Arbeit geht. Seit rund einem Jahr legt der Zentrumsleiter des Alterszentrums Park in Frauenfeld nämlich seinen Arbeitsweg mit dem E-Bike zurück. Hin- und Rückfahrt zusammen betragen rund 62 Kilometer. Liepelt braucht für eine Fahrt zwischen 45 und 55 Minuten. «Eigentlich hatte ich mir am Anfang gesagt: Du vergisst, dass du ein Auto hast. Es sei denn, das Thermometer zeigt minus fünf Grad, ein Gewitter tobt oder es hat Glatteis, Schneeglätte oder dergleichen; bei solchen Wetterbedingungen darfst du dann dein Elektroauto nehmen.» Gemäss Liepelt war es im vergangenen Winter an mehreren Tagen kälter als minus fünf Grad. Dennoch sei er lediglich zwei Mal mit dem Auto zur Arbeit gefahren.
«Hin und wieder muss man eben in den sauren Apfel beissen», sagt Liepelt, der einst an Triathlons teilnahm. Bewegung – sei es ein Waldspaziergang über den Mittag, ein Schwumm am Abend im Bodensee oder eine Jogging-Runde am Wochenende – helfe ihm, zentriert zu sein, seine Gedanken zu ordnen und gebe ihm viel Energie.
Nicht so nah dran wie ein Pfleger
Führen, entscheiden, agieren und reagieren: Liepelts Job ist anspruchsvoll und mit viel Verantwortung verbunden. Ein Thema, das ihn in seinem Berufsalltag oft begleitet, ist der Tod. Zwar erlebt er nicht hautnah, wenn jemand stirbt, er erfährt aber jedes Mal, wenn jemand gestorben ist und unterschreibt dann die Trauerkarte des Betriebs.
Gemäss der öffentlich-rechtlichen Nachrichten- und Informationsplattform
swissinfo.ch sterben 44 Prozent der Schweizerinnen und Schweizer in einem Heim, 37 Prozent in Spitälern und 19 Prozent zu Hause oder anderswo.
«Alters- und Pflegeheime werden oft mit dem ‹letzten Lebensabschnitt› in Verbindung gebracht», sagt Liepelt, der nun wieder am Tisch in der Essecke sitzt. Doch dieses Bild sei zu einseitig, findet er. Es gebe nämlich vermehrt Personen, die lediglich für einige Zeit ins Alterszentrum kämen. Das können Ferienaufenthalte sein oder auch Menschen, die noch selbständig zu Hause gelebt haben, die aber beispielsweise gestürzt sind und dann das volle Programm mit OP, Reha etc. schon hinter sich haben, aber eben noch ein paar Monate brauchen, bis sie wieder selbstständig leben können. «Deshalb darf ein Altersheim auch gelegentlich eine Durchgangsstation sein.»
Das Prinzip «Stirb-und-Werde»
Liepelt sagt: «Ich habe schon grossen Respekt vor dem Tod.» Aber nie und nimmer sei für ihn der Tod das Ende, das sei für ihn undenkbar. «Mein ganzes Wertesystem, alles würde in sich zusammenstürzen, wenn ich einfach sagen würde: ‹Gastspiel, Feierabend, du verrottest irgendwann, das war’s!› Das ist für mich schlicht auch gar nicht logisch.» Wenn die Bäume zum Winter hin ihre Blätter abwerfen, die Blumen verdorren, es kalt werde, sei dies doch auch nur auszuhalten, weil wir wüssten, dass wieder der Frühling komme. Liepelt fragt: «Warum sollte der Mensch als einziger für immer von der Bildfläche verschwinden?» Alles laufe nach dem Prinzip «Stirb-und-Werde», das stelle er jedes Mal in der Natur, in der Pflanzen- und Tierwelt aufs Neue fest.
Er erzählt, wie er am Karfreitag im Wald den Gong gespielt – Liepelt ist gelernter Gongtherapeut – und sich dabei auf das Karfreitagsgeschehen, auf das Sterben konzentriert hat. Am Ostersonntag habe er nochmals ein solches Ritual gemacht – «dann kam das Werde». Dazwischen habe er gefastet, um seine Wahrnehmung zu sensibilisieren. Liepelt ist jemand, der die Daseinsdinge ergründen will. Er sei je länger je mehr überzeugt, dass es eine Kraft gebe, die allem zugrunde liegt, was wir in unserer sichtbaren Welt sehen und erleben. «Denn das, was wir sehen, vergeht – die gestaltende Kraft aber bleibt.»
Nach der Pensionierung nochmals voll ins Leben
«Ich glaube, im ganzen Wirrwarr dieser Zeit, in der viele Menschen verunsichert sind, gibt es zentrale Fragen: Wo ist mein Zentrum? Was ist mein Weg? Warum bin ich auf dieser Welt?», sagt Liepelt und fügt an: «Ich möchte Menschen helfen, auf solche Fragen eine Antwort zu finden.»
Der 62-Jährige beabsichtigt denn auch, wenn er dann pensioniert wird, wieder wie einst, aber etwas anders, therapeutisch zu arbeiten – zurzeit macht er noch eine Klangschalenausbildung. Zudem wolle er noch mehr beraterisch im Bereich erneuerbare Energien, Autarkie und dergleichen tätig sein. Der 62-Jährige spricht von einem «Karrieresprung der etwas anderen Art».
Liepelt hat einen wachen Geist in einem fitten Körper und steht voll im Saft, mitten im Leben. «Ich lebe gerne – sehr, sehr gerne. Je älter ich werde, desto lieber lebe ich», sagt er und fügt an: «Das kann ich im Brustton tiefer Überzeugung sagen.»