Ein brisanter Vorschlag: Drei-Tage-Woche bei vollem Lohn

Dieser Mann will die Arbeitszeiten fürs Pflegepersonal und für Assistenzärzte neu organisieren: Er fordert 60-Prozent-Pensen – bei vollem Lohn.

, 19. Januar 2022 um 06:19
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Der Luzerner Berater und Coach Arnaldo Urbanetti macht im Hinblick auf eine neue Gesundheitskrise in der Schweiz einen spektakulären Vorschlag. Er möchte, dass die Spitäler massiv mehr Personal einstellen und dieses dann im Normalfall nur noch drei Tage pro Woche arbeitet. Dafür müsste es bereit sein, im Krisenfall bis zu fünf Tage zu arbeiten. Urbanetti präzisiert seine Pläne im Interview mit Medinside.
Herr Urbanetti, Sie stellen eine ungewöhnliche Forderung auf: 60-Prozent-Pensen fürs Pflegepersonal und alle Assistenzärzte. Heisst das, sie würden das Spitalpersonal nur noch drei Tage pro Woche arbeiten lassen, ihnen aber einen vollen Lohn zahlen?
Im Prinzip ja. Aber im vollen Lohn für diese Drei-Tage-Woche wäre eine Vorhalteleistung inbegriffen. Im Krisenfall müssten sich diese Leute aufbieten lassen und dann ihr Pensum auf 80 oder 100 Prozent aufstocken.
Das wäre im Arbeitsvertrag so festgehalten?
Natürlich muss man berücksichtigen, dass der Mensch kreativ ist und für die beiden freien Tage eine weitere Anstellung annehmen könnte. Aber es liesse sich vertraglich regeln, dass das Personal im Krisenfall tatsächlich voll zur Verfügung stünde.
Ihr Vorschlag bedeutet, dass die Spitäler 40 Prozent mehr Pflegepersonal und Assistenzärzte anstellen müsste. Wer bezahlt das?
Die Finanzierung ist das eine, die Fähigkeit zu reagieren und Kapazitäten hochzufahren, ist das andere. Wir haben nicht wie andere Länder eine Armee mit hochspezialisierten Ärzten und Kliniken oder gar Spitalschiffe welche kurzfristig einspringen können. Im Milizsystem sind es die gleichen Bürger, die im Ernstfall handeln. Wie die Gesellschaft mit der «besten Armee der Welt» eine ernsthafte biologische Bedrohung handhaben könnte, ist mir schleierhaft.
Aber können wir uns eine Drei-Tage-Woche zu vollem Lohn für die Pflege und die Assistenzärzte leisten?
Zuerst muss man eine Lösung ausarbeiten und dann schauen, wie sie finanziert wird. Ich bin der Meinung, dass das Gesundheitswesen nicht Sache der Kantone ist, sondern des Bundes. Denn die Kantone sind zu klein – zum Teil so klein, dass sie sich eigentlich gar kein Spital leisten könnten und trotzdem eines haben. Vielleicht müsste man auch generell überlegen, ob die Kantone Eigentümer der Spitäler sein sollen. Sie müssen die Gebäude irgendwie finanzieren. Es wäre aber wohl günstiger, wenn die Spitäler, die Gebäude und die Infrastruktur in einem Volksvermögen-Fonds zusammengefasst würden und dem Personal zur Verfügung gestellt würden.
Was müsste man in einem nächsten Pandemiefall besser machen im Schweizer Gesundheitswesen?
Grundsätzlich hat man es ja nicht so schlecht gemacht. Andererseits habe ich auch persönliche Erfahrungen gemacht. Ich bin dieses Jahr viermal wegen einer Netzhautablösung operiert worden. Die dritte Operation hat man hinausgeschoben – ich weiss nicht, ob wegen Covid-19 oder nicht. Die Folge ist, dass ich jetzt sehbehindert bleibe. Daran habe ich keine Freude. Man müsste das nächste Mal früher und schneller Massnahmen treffen, statt nur die Wirtschaft zu schützen und ihr Milliarden zuzuschieben. Besser wäre, den Bürgern vorübergehend ein Grundeinkommen zukommen zu lassen, welches ihnen eine gewisse Beruhigung gibt.
Aber es geht ja nicht nur ums Geld. Es gibt zu wenig Pflegepersonal. Warum?
Die Attraktivität des Berufes hat extrem gelitten. Und es gibt auch ein finanzielles Problem. Wer nachts und am Wochenende arbeiten muss, soll auch etwas für diese Bereitschaft bekommen.
Viele Spitäler weichen auf Personal aus dem Ausland aus. Liesse sich das verhindern?
Wenn man günstigere Arbeitskräfte aus dem Ausland bekommt, macht das ein marktwirtschaftlich organisiertes Unternehmen natürlich und übt damit auch Druck auf die anderen aus. Deutsche Ärzte kosten in der Regel weniger. Ausserdem haben wir wegen des Numerus Clausus eine beschränkte Zahl an Ärzten. Man müsste einen Inländer-Vorrang einführen. Das wäre auch wichtig, weil ausländische Staaten ein Rekrutierungsrecht auf ihre Arbeitskräfte ausüben können. Es wäre doch dumm, wenn in einer nächsten Krise andere Staaten die Hälfte unseres Gesundheitspersonal zwangsrekrutieren könnte und wir stünden im Leeren.
Was haben Sie der hohen Ausstiegsrate beim Pflegepersonal entgegenzusetzen?
Das hierarchische System im Gesundheitssystem macht die Menschen unzufrieden und ist nicht wertschätzend. Dazu kommen die Arbeitsbedingungen an sich. Die psychische Belastung kann man mit einem 60-Prozent-Pensum ein Stück weit kompensieren, weil die Erholungszeit länger wird. Ins Auge fassen sollte man Ansprechstellen fürs Personal, das psychisch an den Anschlag kommt. Es ist eine Belastung zu sehen, wie die Leute sterben, obwohl man sich bemüht. 
«Das hierarchische System im Gesundheitssystem macht die Menschen unzufrieden und ist nicht wertschätzend.»
Das geht an die Psyche. Die Anerkennung könnte man mit einer Image-Kampagne verbessern. Der dritte Punkt ist, dass Pflegeberufe oft in Konflikt mit dem Familien- und Sozialleben stehen. Das liesse sich sicher mit einer Pensenreduktion etwas abfedern. Ich finde es übrigens auch schlecht, dass viel Personal mit 64 oder 65 Jahren zwangspensioniert wird, obwohl es gerne noch weiterarbeiten würde.
Sie haben vorhin nur über die psychische Belastung gesprochen. Die Pflege ist aber oft auch körperlich belastend.
Eine Massnahme gegen die schwere Arbeit ist mehr Personal, das mithilft. Und wichtig sind die technischen Hilfsmöglichkeiten. Vor allem mit der Robotisierung gäbe es sicher geeignete Mittel zum Heben oder Drehen von Patienten. Ob ich jemanden aus eigener Kraft heben muss oder ob ich ein Kippbett habe, ist ein Unterschied. Ausserdem ist die körperliche Arbeit auch in der Ausbildung ein Thema: Dort lernt man, wie man gewisse Arbeiten richtig ausführt.
Eine andere Frage: Wäre unser Gesundheitssystem flexibler und besser auf Krisen vorbereitet, wenn es privatisiert würde?
Meine persönliche Überzeugung ist, dass das Gesundheitswesen systemrelevant ist. Es ist Bestandteil unserer Gesellschaft. Und deshalb muss man sich sehr gut überlegen, ob und wie man es privatisieren will. Privatisierung hat immer zur Folge, dass man Gewinne erwirtschaften und diese maximieren will. Das ist ja auch nicht schlecht, solange man die Gewinne wieder sinn- und zweckgemäss einsetzt. Aber oft werden die Gewinne von Kantonen, Gemeinden oder Privaten kurzfristig abgeschöpft. Und dann fehlt das Geld für Investitionen.
Heisst das, dass Sie gegen Privatkliniken sind?
Nicht zwingend. Aber die Grundversorgung muss sichergestellt sein und darf nicht rein privatwirtschaftlich funktionieren.
Die Privatspitäler würden also nur noch den Luxus obendrauf bieten?
Ja, das könnte man so sagen.

Zur Person

Arnaldo Urbanetti (60) arbeitet als Berater und Coach in seiner Firma ICU im luzernischen Beromünster. Der frühere Unternehmer und Firmenleiter vermisst oft das vernetzte Denken und findet es schlecht, wenn jeweils nur einzelne Fragen - wie zum Beispiel die Spitalfinanzierung - angeschaut werden, aber die Gesamtzusammenhänge vernachlässigt werden.

Angestellte arbeiten weniger und erhalten den vollen Lohn

Arnaldo Urbanettis Vorschlag für eine Drei-Tage-Woche ist nicht völlig utopisch. Der japanische Elektronikkonzern Panasonic bietet seinen Angestellten seit kurzen eine freiwillige Viertage-Woche an. Der Verbrauchsgüter Unilever testet in Neuseeland ebenfalls die Viertage-Woche. Dass Angestellte weniger arbeiten und trotzdem den vollen Lohn erhalten, ist ein internationaler Trend.
Urbanettis Vorschlag für eine Drei-Tage-Woche könnte auch bei der Umsetzung der Pflege-Initiative eine Rolle spielen. Die Initiative verlangt nämlich neue Regelungen bei den Arbeitsbedingungen und den Löhnen.
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