Sie dienen als Aushängeschild für den Quer- bzw. Wiedereinstieg in die Pflege. Der eine war mehrere Jahre als Radiomoderator tätig – heute arbeitet er als Pflegefachmann HF im Stadtspital Zürich. Der andere steht als Chansonnier auf der Bühne und arbeitet nebenberuflich in einem Alters- und Pflegeheim. Man kennt ihre Namen:
Patrick Hässig und
Michael von der Heide sind zwei Gesichter von vielen.
Wie viele Quereinsteiger und Wiedereinsteiger es hierzulande in der Pflege gibt, ist nicht klar. «Es gibt dazu unseres Wissens keine offiziellen Zahlen», schreibt Christina Schumacher, die Stellvertretende Geschäftsführerin des Schweizer Berufsverbands der Pflegefachfrauen und Pflegefachmänner (SBK), auf Anfrage.
Zahlen zu Quereinsteigern gibt es kaum
Wie viele Quereinsteigerinnen und Quereinsteiger sich jährlich für die dreijährige Ausbildung zur Pflegefachfrau HF / zum Pflegefachmann HF einschreiben und wie viele davon dann auch tatsächlich abschliessen, das ist ebenfalls schwierig herauszufinden.
Klar ist: In den vergangenen Jahren – konkret von 2015 bis 2021 – ist die Zahl aller neuen Eintritte im Pflegebereich stetig gestiegen. Bei den diplomierten Pflegefachpersonen HF etwa haben die Eintritte um fast 27 Prozent zugenommen (
Medinside berichtete).
Gemäss Ruth Aeberhard, Bereichsleiterin Höhere Fachschulen und Mitglied der Geschäftsleitung des Careum Bildungszentrums für Gesundheitsberufe in Zürich, sind die Nachfragen nach Ausbildungen in Gesundheitsberufen wegen der Pandemie kurzfristig gestiegen. So wurden auch mehr Personen verzeichnet, die sich für den Bildungsgang HF Pflege interessierten. «Diese Tendenz ist nun aber wieder am Abflachen – die meisten Bildungszentren für HF Pflege haben wieder die Zahlen wie vor der Pandemie», schreibt Aeberhard.
Während dem dreijährigen Studium sei bei Quereinsteigern keine höhere Abbruchquote ersichtlich, schreibt Aeberhard weiter. Die Abschlussquote bei den Höheren Fachschulen Pflege betrage rund 94 Prozent, was ein sehr erfreuliches Resultat sei.
Von der Werbebranche in die Pflege
Auch Annette Gallmann und Peter Kienzle möchten neu in die Pflege einsteigen: Sie sind in Ausbildung zur Pflegefachfrau HF bzw. zum Pflegefachmann HF. Während Gallmann diesen August frisch gestartet hat, befindet sich Kienzle bereits im zweiten Ausbildungsjahr. Beide tragen einen Rucksack gefüllt mit allerhand Arbeits- und Lebenserfahrung. Und beide haben einen kreativen Hintergrund.
Kienzle ist studierter Grafikdesigner und war rund 25 Jahre als Art Director tätig, unter anderem für «20 Minuten» und für eine Werbeagentur. Zu seinen Kunden zählten etwa Adidas, Nike, Nasa, Boss und Tatonka. Dabei machte er Werbung, Editorial Design und Webdesign, aber auch Illustrationen für verschiedenste Magazine weltweit.
«Ich bin quasi das Versuchskaninchen»
Gallmann kommt ursprünglich aus der Hotellerie und Gastronomie. Bis vor kurzem bekochte sie ihre Gäste im denkmalgeschützten, fast 460-jährigen «Schneckenhaus» in Osterfingen (SH). In diesem geschichtsträchtigen Haus wohnt sie auch – zusammen mit ihrem Ehemann und den drei Töchtern. «Die Essensangebote im ‹Schneckenhaus› müssen nun im Dornröschenschlaf verweilen, da ich während der Ausbildungszeit keine Kapazität mehr dafür habe», sagt Gallmann, die sich zertifizierte Märchenerzählerin nennen darf. Dass sich im «Schneckenhaus» die
Märchen-Lesebibliothek Schaffhauserland befindet, verwundert daher nicht.
Annette Gallmann fühlt sich «gut aufgehoben» bei ihrem Arbeitgeber, der Spitex Klettgau-Randen. | zvg
Vor rund zwei Jahren nahm Gallmann eine Tätigkeit als Haushaltshilfe bei der Spitex Klettgau-Randen auf. Ein paar Monate später entschied sie sich, den Lehrgang Pflegehelferin SRK zu machen. «Das Themengebiet Mensch und Gesundheit packte mich von Anbeginn», sagt die 47-Jährige und fährt fort: «Ich bekam Hunger auf mehr – auf mehr Wissen im Bereich Pflege und darauf, mitten im Leben einen beruflichen Neubeginn zu wagen.»
Gallmann informierte sich über die verschiedenen Ausbildungen im Gesundheitswesen – das Berufsbild Pflegefachfrau HF fand sie «sehr ansprechend».
Gallmanns Arbeitgeber, die Spitex Klettgau-Randen, bietet zum ersten Mal einen solchen Ausbildungsplatz an. «Ich bin quasi das Versuchskaninchen», scherzt die 47-Jährige. Sie fühle sich gut aufgehoben bei der Spitex Klettgau-Randen und könne als Auszubildende auf die Unterstützung des Betriebs zählen.
Viele Arbeitsstunden vor dem Computerbildschirm
Als Kienzle noch in der Werbebranche tätig war, verbrachte er seine Arbeitszeit meistens am Computer. Mit 49 Jahren hatte er einen Durchhänger im Job, da keimte in ihm der Gedanke auf: «Jetzt könnte ich einen Neubeginn wagen.» Er habe sich an die Zeit als Zivildienstler zurückerinnert, wie er seinerzeit schon betagte und körperlich behinderte Menschen gepflegt hatte.
Mit diesem Blick in die Vergangenheit legte Kienzle den Grundstein für seinen künftigen Berufsweg. «Ich wollte im direkten Kontakt mit Menschen und mehr körperlich arbeiten. Mein Wunsch war, einer Arbeit nachzugehen, mit der ich etwas bewirken kann», sagt er.
«Sie wollen helfen»
Personen, die ursprünglich einen anderen Beruf erlernten und in die Pflege einsteigen möchten, haben meistens die gleiche Motivation wie junge Berufseinsteiger: «Sie möchten mit Menschen zu tun haben, etwas Sinnvolles machen. Und sie wollen helfen», stellte Aeberhard vom Careum Bildungszentrum
bereits vor zwei Jahren fest.
Seit wann ist ein Quereinstieg in die Pflege möglich?
Die Möglichkeit quer in den Pflegeberuf einzusteigen, gibt es gemäss Aeberhard seit dem Jahr 2005. Interessierte Personen können seit damals, sofern sie einen Abschluss auf der Sekundarstufe II haben, direkt an einer Höheren Fachschule die Ausbildung HF Pflege absolvieren.
Erst ab 2004 – in diesem Jahr trat das
neue Berufsbildungsgesetz in Kraft – war in den Bereichen Gesundheit, Soziales und Kunst eine Berufsausbildung auf der Sekundarstufe II möglich. Bis dato konnte man, erst nachdem man die obligatorische Schulzeit durchlaufen und die Volljährigkeit erreicht hatte, eine Ausbildung in der Pflege anfangen.
Mit dem neuen Berufsbildungsgesetz wurden die Berufe in den genannten Bereichen ins ordentliche Berufsbildungssystem integriert: Für die Ausbildungen waren nicht mehr die Kantone zuständig, fortan war das Sache des Bundes, wie
hier zu lesen ist. Mit dem neuen Gesetz sollte die berufliche Praxis mehr gewichtet und die Dualität der Gesundheitsausbildungen mehr in den Fokus gesetzt werden.
Peter Kienzle: «Wer die Ausbildung zum Pflegefachmann HF machen will, braucht viel Durchhaltewillen.» | zvg
Deshalb lernt Peter Kienzle gern im Selbststudium
Kienzle studiert am Careum. Aktuell ist er im zweiten Praxissemester; er arbeitet in einem Gesundheitszentrum für das Alter in Zollikon. Der 52-Jährige schätzt es, dass er neben dem Präsenzunterricht sich den Lernstoff auch im Selbststudium erarbeiten kann. So müsse er nicht jedes Mal in die Vorlesungen vor Ort gehen, sondern könne dann abends zu Hause studieren. «Das gibt mir Freiraum. Ich kann mich so auch mehr um meine Kinder kümmern», sagt er.
Kienzle findet: «Da man als Quereinsteiger sehr viel Neues lernen muss, ist es wichtig, dass man einen offenen Geist hat.» Weshalb erhöht fettes Essen das Risiko für einen Herzinfarkt? Warum haben ältere Menschen weniger Durst? – Kienzle versteht nach und nach mehr, wie alles zusammenhängt. Zu Beginn des Studiums habe er die Lernstoffe noch nicht so gut verknüpfen können, nun könne er die Zusammenhänge besser sehen.
Für Kienzle ist klar: «Wer die Ausbildung zum Pflegefachmann HF machen will, braucht viel Durchhaltewillen.» Dessen ist sich Gallmann bewusst: «Mein erstes Ziel als neue Studentin ist es, die kommenden drei Jahre durchzuziehen.» Sie habe sich zuerst schon gefragt, ob sie dem grossen Druck standhalten und alles – Studium, Familie und ihre anderen Tätigkeiten – unter einen Hut bringen könne. Einige Menschen aus ihrem Umfeld hätten sie auch gefragt, ob sie sich das wirklich noch antun wolle.
Wie es der Zufall will, hat Gallmanns älteste Tochter sich ebenfalls für die Ausbildung zur Pflegefachfrau HF entschlossen – allerdings hat sie diese schon vor rund drei Jahren abgeschlossen. «Meine Tochter konnte mir auf meine brennendsten Fragen zur Schule und zu vielem mehr Auskunft geben. Sie macht mir Mut, dass ich es schaffen werde und bietet mir an, mich zu unterstützen», sagt die dreifache Mutter.
Tabuthema Intimpflege?
«Vielleicht haben junge Menschen mehr Mühe, andere im Intimbereich zu pflegen – Menschen mit mehr Lebenserfahrung sind diesbezüglich wohl etwas reifer und daher weniger gehemmt», meint Gallmann. Doch auch sie war zuerst nicht so locker, was das Thema Intimpflege von Pflegebedürftigen anbelangt. «Aber man macht es dann einfach, es ist ja etwas völlig Natürliches und sollte uns daher nicht schwerfallen.»
Manchmal mache er für gewisse Patienten eine Katzenwäsche zugunsten einer anderen Sache, sagt Kienzle. Er beschäftige sich dann etwa länger mit einer Person im Gespräch. «Meine Arbeit ist so viel mehr als nur Körperhygiene; ich pflege die Seele noch mehr als den Körper des Patienten. Am Schluss bleibt vor allem das hängen, was man als Pfleger psychologisch hat ausrichten können», sagt er.
Mit Jugendlichen die Schulbank drücken
In der Schule hat Kienzle oft mit deutlich jüngeren Mitstudenten zu tun; es sei auch schon vorgekommen, dass ihm eine 18-Jährige etwas erklärt habe, sagt der 52-Jährige. Gallmann findet: «Gerade dieser Altersmix macht doch einen guten Unterricht aus – jeder kann von jedem profitieren.» Dem stimmt Kienzle zu: «Unsereins kann vielleicht die Psychologie des Gegenübers – weshalb verhält sich die Person so? – besser verstehen, während etwa ausgebildete FaGe, die jünger sind und noch die Ausbildung HF Pflege machen, ein grösseres Wissen in Medizin haben.»
«Ich bin im richtigen Beruf!»
Dass für Gallmann die Ausbildung zur Pflegefachfrau HF ein Herzenswunsch ist, wird unter anderem offensichtlich, als sie von einem Schlüsselerlebnis erzählt: «Nach meinem ersten Morgen als Pflegehelferin lachten mein Herz und mein Gesicht wie von selbst. Dieses Erlebnis bleibt mir in warmer Erinnerung, und das Gefühl sagt mir, dass ich auf dem richtigen Weg bin – ich habe einen Beruf entdeckt, der zu mir passt.»
Auch Kienzle ist froh, diesen Weg eingeschlagen zu haben. «Es sind die kleinen Momente, die mir bestätigen: Ich bin im richtigen Beruf!» Mit «kleinen Momenten» meint er etwa, wenn ein Heimbewohner sich an seinen Namen erinnern kann oder eine Heimbewohnerin ihn während seiner Pause in der Cafeteria herzlich grüsst. «Schön ist auch, wenn manche Heimbewohner zu mir kommen und sagen: ‹Wissen Sie, zu Ihnen habe ich Vertrauen›.»
Annette Gallmann: «Das Märchenerzählen lässt sich gut in den Arbeitsalltag integrieren.» | zvg
«Es war einmal…»
Gallmann empfindet grosse Freude, wenn sie einen Zugang zur pflegebedürftigen Person findet, diese im Inneren berühren und so dann abholen kann, wie sie im Gespräch sagt. Die 47-Jährige ist der Überzeugung, dass ein Lächeln im Pflegealltag viel bewirkt: «Das Lächeln bietet auf einfache Art die Möglichkeit, eine Brücke zu bauen – zwischen dem Pfleger und Pflegeempfänger –, gerade auch, wenn Worte fehlen. Ein Lächeln findet immer den Weg.»
Gallmann schafft für Pflegebedürftige auch Brücken zu einer anderen Welt, in der alles möglich ist – Gegenstände werden lebendig, Menschen fliegen und Tiere sprechen. Das Märchenerzählen lasse sich gut in den Arbeitsalltag integrieren, findet sie. «Eine ältere Frau, der ich ein Märchen erzählt hatte, sagte mir, als ich sie wieder besuchte: ‹Diese Geschichte, die sie mir erzählt haben, ist mir dann also noch in Erinnerung geblieben›.» Gallmann sagt, das seien kleine Geschenke, die sie den Patienten mitbringen könne.
Die zertifizierte Märchenerzählerin beschäftigt sich derzeit im Rahmen einer Weiterbildung mit der Biographiearbeit mit Märchen. Daraus würden sich immer wieder Erkenntnisse und Erlerntes in den Pflegealltag einbinden und einfliessen lassen. «Ich habe grosse Achtung vor den Pflegebedürftigen und ihren Lebensgeschichten und versuche daher das, was sie erlebt, geleistet etc. haben, auf eine einfühlsame Art in den Pflegealltag einzubeziehen – sie als Mensch mit ihren ganz persönlichen Geschichten sollen im Mittelpunkt stehen.»
Kienzles kreativer Hintergrund kommt im Pflegealltag ebenfalls zum Tragen. Er zeichnet zwar nicht mit den Heimbewohnern, vielmehr versucht er, neue kreative Wege zu finden, sich mit ihnen zu beschäftigen. «Ich kommentiere viel, gebe Komplimente – hat jemand eine neue Frisur, spreche ich das an – und unterhalte mich mit ihnen über Dinge, die sie mögen.» Hier komme ihm sein beruflicher Erfahrungsschatz zugute, so Kienzle.
Ein Thema, das schon lange unter den Nägeln brennt
Der ehemalige Art Director findet es wichtig, dass es mit der Umsetzung der Pflegeinitiative «vorwärtsgeht». Er sei zwar nicht so hoffnungsvoll, wenn er sehe, wie die Politik laufe. «Doch die Hoffnung sollte ja bekanntlich zuletzt sterben.» Es sei höchste Zeit, dass die Pflege mehr Menschen ins Fach bekomme und die Arbeitsbedingungen besser würden, sagt Kienzle. Deshalb sei er auch Werbeträger für die Langzeitpflege-Kampagne
«Karriere machen als Mensch» geworden. Gallmann ist ebenfalls eines der Kampagnengesichter.
Ausbildungslöhne für Quereinsteiger sollen attraktiver werden
Wie Medinside unlängst
berichtete, hat die SBK-Sektion Zürich/Glarus/Schaffhausen bezüglich Umsetzung der Pflegeinitiative einen konkreten Schritt gemacht: In einem Positionspapier hat die Sektion verschiedene Forderungen formuliert, es handelt sich um 20 Massnahmen. Unter anderem sollen bei ungeplanten Einsätzen die Zeitgutschriften verdoppelt werden. Auch sollen Ausbildungslöhne generell – aber insbesondere für den Quereinstieg – attraktiver werden.
«Gerade für Menschen, die bereits seit Jahren selbst für ihren Unterhalt aufkommen müssen, ist es finanziell fast unmöglich, während der Vollzeitausbildung über die Runden zu kommen», findet Gallmann. Um die Ausbildung attraktiver zu machen und mehr Quer- sowie Wiedereinsteiger zu gewinnen, müssten die vielen Hürden, unter anderem eben die finanzielle, abgebaut werden.
Im Kanton Schaffhausen gibt es einen
Fonds, mit dem Studierende mit Ausbildungsbeiträgen unterstützt werden sollen, wie Gallmann weiss. Allerdings: Das Antragsformular muss bis März des Vorjahres vor Ausbildungsbeginn eingereicht werden. «Wer weiss denn schon – 18 Monate vor Ausbildungsbeginn –, ob er diese Ausbildung machen will oder kann?», fragt Gallmann etwas irritiert.
Mehr Menschen für Pflegeberufe motivieren
Kienzle hofft, dass die Kampagne «Karriere machen als Mensch» etwas bewirkt. «Es wäre schön, wenn die eine oder der andere sagen würde: ‹Wenn die zwei das können, kann ich das vielleicht auch›.» Wenn es nur einer sei, den er so für das Berufsfeld Pflege motivieren könne, würde ihn das schon freuen. «Aber», sagt er, «noch lieber wären mir natürlich zehn Personen oder mehr».
Gallmann sagt: «Patrick Hässig und Michael von der Heide haben den Quer- bzw. Wiedereinstieg auch geschafft – solche Geschichten motivieren sehr.»
Es ist nie zu spät, ganz neu in der Pflege zu beginnen: Das zeigen die Beispiele von Gallmann und Kienzle. Beide sind mit viel Herzblut dabei und bringen eine gehörige Ladung an Lebenserfahrung sowie Wissensdurst mit. Den Pflegebedürftigen begegnen sie mit Wärme, Mitgefühl und einem Lächeln – Quereinsteiger wie Gallmann und Kienzle sind eine grosse Bereicherung für die Pflege.