Er steht vor seinem Traktor, sie sitzt an der Nähmaschine, er trägt ein Stethoskop um den Hals – der Bauer, die Schneiderin, der Arzt. Fotos von Menschen und deren Berufe sind nach dem gleichen Schema aufgebaut, und erst mithilfe von berufsspezifischen Accessoires, Gegenständen oder Objekten wird die Tätigkeit des ins Szene gesetzten Subjekts ersichtlich.
Halsschmuck der Ärzte?
Wer das Wort «Arzt» in die Google-Suchleiste eingibt und dann auf Bilder klickt, findet Fotos von Männern, ein paar Frauen sind auch dabei, die ausschliesslich weisse Kittel und ein Stethoskop um den Hals tragen.
Zugegeben, solche Fotos sind fast immer gestellt. Aber wirkt es nicht extrem klischeehaft, dieses Bild vom Arzt, dessen Stethoskop lässig um seinen Hals baumelt? Wie viel haben solche Fotos mit der Realität gemein?
«Tatsächlich ist es so, dass in der Schweiz das Stethoskop von den Ärztinnen und Ärzten meist in der Kitteltasche getragen wird. Es gibt aber auch solche, die es um den Hals tragen», antwortet Richard Kobza, Chefarzt Kardiologie am Luzerner Kantonsspital (Luks) und Präsident der Schweizerischen Gesellschaft für Kardiologie, auf Anfrage. Das Stethoskop um den Hals zu tragen, sei im angelsächsischen Raum üblicher, schreibt der Kardiologe und fügt an: «Wenn es heiss ist wie jetzt, dann lasse ich meinen Kittel manchmal im Büro und lege mir das Stethoskop auch um den Hals.»
«Die Realität ist heute bunter»
Felix Huber, Präsident der Medix-Ärztenetze, ist der Meinung, in der Regel trügen nur noch Intensivmediziner und Anästhesisten das Stethoskop ständig um den Hals, weil sie es häufig bräuchten. Die anderen Ärzte würden es aber z.B. in der Allgemeinmedizinischen Sprechstunde ziemlich häufig einsetzen.
Und was meint die FMH? Die Realität sei heute bunter, wobei die traditionelle Darstellung immer noch ihre Gültigkeit habe, schreibt die Ärzteverbindung. Dass heute junge Ärztinnen im Vergleich mit den Männern in der Mehrheit seien – seit 2005 überwogen jedes Jahr die Frauen unter den Absolventen in Humanmedizin – , diese Tatsache würden die Fotos offenbar noch nicht abbilden, schreibt die FMH weiter.
Stethoskope – etwas für die Museumsvitrine?
Vor acht Jahren forderten zwei New Yorker Mediziner, das Stethoskop ins Museum zu verbannen, wie die «Süddeutsche Zeitung» damals berichtete. Da manche Ultraschallgeräte «wenig grösser sind als ein Kartenspiel und Technik von Smartphones bieten», seien sie jedem Stethoskop überlegen, argumentierten die Mediziner im Fachblatt
Global Heart.
Ist das Stethoskop also aus der Mode gekommen? Nein, findet die FMH, denn es gehöre immer noch zur Grundausrüstung jeder Ärztin und jedes Arztes, und sei in diesem Sinn zeitlos. Dem stimmt auch Medix-Präsident Huber zu: «Das Stethoskop ist immer noch ein sehr wichtiges Untersuchungsinstrument.»
Das Abhören von Herz, Lunge und Darm mit dem Stethoskop sei immer noch Teil der einfachen körperlichen Untersuchung, schreibt die FMH. Dazu kämen weitere technische Instrumente wie zum Beispiel die Sonographie, welche ergänzend eingesetzt würden.
«Ergänzung, aber kein Ersatz»
Kobza bezeichnet es zwar als «Glück», dass es heutzutage Werkzeuge gibt, die viel präziser sind als das Stethoskop. Aber auch er ist der Meinung, dass «technologische Innovationen trotz ihres unbestrittenen Wertes eine vollständige körperliche Untersuchung nicht ersetzen, sondern ergänzen». Deshalb bleibe die klinische Auskultation eine wichtige und kostengünstige Screening-Methode für die Ärztinnen und Ärzte in der kardiorespiratorischen Diagnostik.
Kobzas Fazit: «Die Herzauskultation wird es auch in Zukunft geben und das Stethoskop ist definitiv noch kein medizinisches Erbstück.» Und die FMH kommt zum Schluss, dass die ärztliche Kunst beherrsche, wer für die Diagnose einer Erkrankung sowohl mit bildgebenden und digitalen Verfahren als auch mit dem Stethoskop arbeiten könne.
Hat sich gut geschlagen
Abschliessend ist noch zu erwähnen: Auch wenn das medizinische Werkzeug in gewissen Bereichen, etwa betreffend Blutdruckmessung oder Auskultation der Lunge, an Bedeutung verloren hat und es seit einigen Jahren nicht mehr in einem so guten Licht steht, da es als
Keimschleuder gilt, hat es sich gut geschlagen.
Die Spritze hat schon fast etwas Bedrohliches
Auf den Fotos von Ärztinnen und Ärzten sind Stethoskope jedenfalls omnipräsent. Das Bild vom Mann oder der Frau im weissen Arztkittel mit Stethoskop um den Hals hat sich nun einmal etabliert. Klar, wäre mehr Vielfältigkeit wünschenswert. Wobei: Stellen Sie sich mal ein Foto von einem Arzt mit Kittel und mit Spritze in der Hand vor – das könnte dann schon fast wieder bedrohlich wirken. Nur in weissem Kittel abgelichtet, geht auch nicht, weil das zu wenig spezifisch ist und zudem Verwechslungsgefahr besteht; auch z.B. Chemielaboranten tragen weisse Kittel.
Angesichts der soeben genannten Gründe und der Tatsache, dass das Stethoskop nach wie vor wichtiger Bestandteil der körperlichen Untersuchung ist, lässt sich sagen: Das medizinische Diagnoseinstrument wird seinen Platz auf Arztfotos so schnell nicht verlieren.