Warum ein Gesundheitsökonom selber zum Unternehmer wird

Eine Million Betagte, die Betreuung brauchen: Das prophezeit der Gesundheitsökonom Heinz Locher. Er hat nun selber eine Betreuungsfirma.

, 28. September 2022 um 05:30
image
Betreuung zu Hause: Das Geschäft der Zukunft? | Pixabay
Es sei ein Praxistest, sagt Heinz Locher, ein Praxistest für sein neues Konzept. Der Berner Gesundheitsexperte hat zusammen mit der Therapeutin Claudine Chiquet mit 78 Jahren eine Firma gegründet. «Care-at-Home» heisst das Unternehmen, das für die Betreuung Betagter im eigenen Zuhause sorgt. Gegründet hat es Heinz Locher, weil er davon ausgeht, dass dieser Markt in den nächsten Jahren boomen und über drei Milliarden Franken Umsatz erreichen wird.
Im Interview mit Medinside sagt Heinz Locher, warum er so zuversichtlich ist, dass sein Konzept aufgeht, was seine Firma von den bestehenden unterscheidet und warum er als Wissenschaftler plötzlich noch zum Unternehmer geworden ist.
Heinz Locher, in allen Teilen der Schweiz gibt es die öffentliche Spitex, dazu kommen etliche private Spitex-Firmen wie die Pflegehilfe Schweiz oder Home-Instead und dann gibt es auch noch private Vermittler wie die Pflegevermittlung Schweiz. Warum haben Sie letztes Jahr noch eine weitere private Betreuungsfirma gegründet?
Weil meine Firma ein anderes Konzept hat und ich dieses Konzept einem Praxistest unterziehen will. Das Unternehmen gehört je zur Hälfte mir und Claudine Chiquet. Sie ist die Ansprechperson für die Kunden und das Mitarbeiter-Team. Zusammen bilden wir die Geschäftsleitung.
Und was ist anders bei Ihrer Firma?
Vor allem die Arbeitsbedingungen. Die Betreuerinnen und Betreuer von «Care-at-Home» erhalten einen Monatslohn und haben das Recht auf eine bezahlte Weiterbildung.
Das ist bei anderen Betreuungsunternehmen nicht so?
Nein, die meisten anderen Unternehmen haben keine echten Angestellten, die sie dazu beauftragen, Kunden zu betreuen. Stattdessen handeln sie als Personalverleiher und bieten Arbeit auf Abruf. Das ist ein grober Missstand in der Branche.
Aber ein erlaubtes Vorgehen, oder?
Ja, leider. Man darf Personal an die Kunden «verleihen» und die Kunden als Auftraggeber ansehen. Die Betagten haben ja tatsächlich Weisungsrechte und können sagen, dass sie das Jogurt im dritten Tablar des Kühlschranks möchten. Aber die Betreuung Betagter als Personalverleih zu klassifizieren, ist meiner Meinung nach falsch und führt zu prekären Arbeitsverhältnissen. Das merken dann häufig auch die Kunden.

Zur Person

Heinz Locher (1943) ist Gesundheitsökonom und hatte bis 2019 eine eigene Beratungsfirma. 1994 bis 2020 war er zudem an der Universität Bern als Dozent tätig. In den Jahren 1972 bis 1976 leitete er die Abteilung Krankenpflege des Schweizerischen Roten Kreuzes und war dort für die Regulierung und Überwachung der Krankenpflegeausbildung in der Schweiz zuständig. Später war er im Kanton Bern für Planung, Bau und Betrieb von Spitälern, Schulen und Heimen zuständig und Sekretär der Gesundheitsdirektion des Kantons Bern.

Und was ist sonst noch anders bei Ihrer Firma?
Die Kunden können die gewünschten Dienstleistungen über eine App buchen. Wir unterstützen ausserdem unsere Angestellten bei der Weiterbildung. Die meisten haben einen Pflegehelferkurs des Roten Kreuzes. Das ist eine Laienausbildung, die oft in einer Sackgasse endet. Wir bezahlen bei einem Vollpensum fünf Weiterbildungstage pro Jahr und 5000 Franken an Kurskosten.
Eine Stunde Hauswirtschaft kostet bei Ihnen 48 Franken, eine Betreuungsstunde 66 Franken. Das können sich längst nicht alle Betagten leisten. Wer soll das bezahlen?
Das ist in der Tat ein Problem. Derzeit werden Ärzte, die Spitexpflege, Spitäler und Heime von den Krankenkassen und den Kantonen bezahlt. Nur die Betreuung muss selber bezahlt werden. Ich bin deshalb der Meinung, dass auch die Betreuung auf kantonaler Ebene via Ergänzungsleistungen, Prämienverbilligungen und Steuerbegrenzungen für alle bezahlbar gemacht werden muss.
Funktioniert das neue Konzept bei Ihrem Unternehmen?
Ja, im Kleinen schon. Wir könnten noch ein paar Kunden mehr brauchen. Wir möchten das Konzept aber schweizweit verbreiten und sind deshalb auf der Suche nach Investoren.
Wollen Sie also nach vielen Jahren als Dozent und Berater auch noch als Unternehmer Geld verdienen?
Nein, das grosse Geld damit verdienen will ich nicht. Mein Ziel ist es, den Markt zu kehren.
Lesen Sie auch das Interview mit Heinz Locher «Ich will den Markt kehren»

image
Der Gesundheitsökonom Heinz Locher (78). | zvg

  • pflege
Artikel teilen

Loading

Kommentar

Mehr zum Thema

image

Simulieren schafft Bewusstsein für die Pflege-Realität

Diese Zahl alarmiert: 40 Prozent der Pflegefachpersonen steigen in den ersten Berufsjahren aus. Am Swiss Center for Design and Health (SCDH) in Nidau bei Biel/Bienne können Entscheidungsträger:innen vorbeugen, indem sie unter Einbezug der Nutzenden im Massstab 1:1 bedürfnisgerecht planen.

image

Arbeitszeit-Modelle: Erfolgsmeldung aus Bülach

Wer mehr Nachtschichten leistet und flexibel einspringt, wird honoriert: Die Idee des Spitals Bülach rechnet sich offenbar – in mehrerlei Hinsicht.

image

«Wir verzichten auf unnötige Dokumente wie Motivationsschreiben»

Die Spitex Region Schwyz hat so viele Job-Interessierte, dass sie Wartelisten führen muss und darf. Wie schafft man das? Die Antworten von Geschäftsführer Samuel Bissig-Scheiber.

image

Pflegeversicherung in Deutschland steckt tief in roten Zahlen

Nicht nur in der Schweiz sind die steigenden Pflegekosten ein brisantes Thema. In Deutschland muss die Pflegeversicherung gerettet werden.

image

Pflegepersonal aus Frankreich: Genf will sich zurückhalten

Der Kanton vereinbart dem Nachbarland, sich weniger eifrig um Gesundheitspersonal aus der Grenzregion zu bemühen.

image

Pflegeinitiative: Wenn sich die Wirklichkeit nicht an den Plan hält

Auch im Thurgau sollte ein Bonus-Malus-System mehr Pflege-Praktika ermöglichen. Doch es fehlen die Menschen. Und jetzt bringen die Strafzahlungen Spitex- und Heim-Betriebe in Not.

Vom gleichen Autor

image

«Hausarzt ist kein Beruf, den man subventionieren muss»

Ein Arzt macht vor, wie eine Berggemeinde zu medizinischer Versorgung kommt. Und er kritisiert Kollegen, die einfach ihre Praxis schliessen.

image

Pflegefachleute verschreiben so sachkundig wie Ärzte

Das dürfte das Pflegepersonal freuen: Es stellt laut einer US-Studie genauso kompetent Arzneimittel-Rezepte aus wie Ärzte.

image

Temporär-Arbeit in der Pflege: Ein Angebot mit Haken

Es gibt gute Gründe für Pflegefachleute, sich nur noch temporär anstellen zu lassen. Aber es gibt auch ein paar gute Argumente dagegen.