Die Geschäftsleitung des Spitals Bülach sah offenbar keine andere Lösung mehr: Sie stellte den Chefarzt der Inneren Medizin auf die Strasse. Spitaldirektor Rolf Gilgen bedauert zwar sehr, dass das Spital Nic Zerkiebel kündigen musste. Es sei aber «aufgrund von Vorfällen und unüberbrückbaren Differenzen» nicht zu vermeiden gewesen. Dies sagt er gegenüber der Zeitung «Zürcher Unterländer».
Was genau zur
abrupten Kündigung geführt hat, wird die Öffentlichkeit wohl nie ganz genau erfahren. Unter anderem wegen einer Stillschweigevereinbarung und aus Rücksicht auf die Persönlichkeitsrechte, wie dies in solchen Fällen so üblich ist.
Es ist bereits das zweite Mal innert kurzer Zeit, dass ein Chefarzt ein Zentrumsspital abrupt verlässt. Vor zwei Wochen ist bekannt geworden, dass
Esther Bächli vom Spital Uster ihren Posten räumen musste. Auch hier waren - wenig aussagend - «unterschiedliche Auffassungen zur strategischen Ausrichtung» der Auslöser.
Grosse Welle der Solidarität
Genau wie bei Esther Bächli ist auch im Fall von Zerkiebel die Solidarität riesig. Dies zeigen offene Briefe
(siehe unten) oder
Kommentare zur Meldung seiner Entlassung. Es herrscht vor allem Betroffenheit und Fassungslosigkeit. Dutzende ehemalige und aktuelle Mitarbeitende, Kaderärztinnen und Kaderärzte, die Hausärzteschaft und das Pflegepersonal sprechen ihm ein dickes Lob aus. Neben seiner fachlichen wird der Chefarzt vor allem für seine zwischenmenschlichen Kompetenzen geschätzt. Der Mediziner sei ein Brückenbauer und Vermittler und fördere das Zusammengehörigkeitsgefühl, schreiben etwa Oberärztinnen der Notfallstation.
Nic Zerkiebel habe den familiären Charakter des Hauses mit seiner wertschätzenden, vertrauensvollen, ausgeglichenen und kompetenten Art zu 100 Prozent gelebt, würdigt ihn das IPS-Pflegeteam. Er habe sich nicht gescheut, bei einer fehlenden Hand bei pflegerischen Massnahmen mitzuhelfen. Der Chefarzt sei auch im Umgang mit Patienten ausgesprochen freundlich, respektvoll und empathisch. Und Zerkiebel habe in der schwierigsten Lage (Corona), die das Personal bisher im Berufsleben meistern musste, Halt und Leitung gegeben.
«Ist das die moderne Art Meinungsverschiedenheiten zu klären?»
Für Empörung sorgen vor allem auch die Umstände seiner Freistellung: Zerkiebel musste am vergangenen Donnerstag unter ständiger Aufsicht von zwei Sicherheitskräften sein Büro räumen. «Es war ein schockierender Anblick, der schmerzte und mich mit einem Gefühl der bodenlosen Ohnmacht zurückliess», schreibt dazu Bernd Yuen, der stellvertretende Chefarzt im Spital Bülach. Er musste die Entlassung und sofortige Freistellung als erster mitansehen.
Vielen seien bei diesem Anblick die Tränen gekommen, so ein Pflegefachmann aus dem Spital. «Wie ein Schwerverbrecher wurde er (der Kapitän) in Begleitung zweier Sicherheitsleute vom Ruder und über die Reling gestossen», fügen Assistenzärzte hinzu. Dieser entwürdigende Umgang widerspreche sämtlichen von Dr. Zerkiebel vorgelebten Werten. Auch Giacinto Basilicata, dem Chefarzt Klinik für Chirurgie, geht der Anblick der Freistellung nicht mehr so schnell aus dem Kopf: «Ist das die moderne Art Meinungsverschiedenheiten zu klären?»
Assistenzärzte bangen um die Ausbildung
Wer ist die oder der Nächste, fragt Roland Büchel, Leitender Arzt Angiologie und Innere Medizin? Wer gibt uns die Antworten, dass wir verstehen können, kommentiert Stephan Böhm, Leitender Arzt Innere Medizin und Gastroenterologie. Und Barbara Lienhardt, Kaderärztin der Intensivmedizin und Innere Medizin, macht sich Sorgen um die Zukunft des Spitals. Für die Mitarbeitenden, die Hausärzte, aber vor allem für die Patienten ist die Entlassung von Zerkiebel «ein Verlust von nicht abzuschätzendem Ausmass», schreibt zudem Reto Baldinger, Leitender Neurologe. Assistenzärzte bangen darüber hinaus um die Qualität der ärztlichen Ausbildung am Spital.
«Wir wollen wissen, was zur Absetzung eines bewährten, integren und weitum geschätzten Chefarztes geführt hat!», fordert Bruno Senn, Leitender Arzt Pneumologie. Wie konnte es soweit kommen? Der offizielle Grund: Unterschiedliche Auffassungen in der strategischen Ausrichtung und in Fragen der Zusammenarbeit mit den Entscheidungsgremien. Das kann vieles heissen. Mit den internen Abläufen vertraute Personen sagen, dass es unter anderem um die Ausrichtung der Neonatologie ging, die wieder reduziert werden soll.
Ökonomie und oder Medizin?
Ein weiterer möglicher Grund liegt mit abstrakter Sichtweise wohl darin, dass der Graben zwischen Medizin und Administration immer tiefer wird, die Beziehung zwischen Ökonomie und Medizin gestaltet sich immer wie schwieriger. Jurist Rolf Gilgen und seine Stellvertreterin, eine Ökonomin, vertreten wohl von Grund aus eine andere Perspektive als ein Mediziner. Meinungsverschiedenheiten zwischen Chefärzten und der vielfach medizinfernen Spitalleitung über strategische Ausrichtungen sind an der Tagesordnung. Die Gesellschaft für Allgemeine Innere Medizin und die Internistischen Chef- und Kaderärzte halten
in diesem Zusammenhang generell fest: «Es wäre an der Zeit, dass in den einseitig auf die Ökonomie fokussierten Spitalstrategien wieder gesellschaftlich wichtige Aspekte Einfluss gewinnen.» Hier öffnet sich allerdings ein weites Problemfeld, das wohl viel tiefer liegt und vor allem auch mit der aktuellen Gesundheitspolitik und dem Gesundheitssystem zu tun hat.