Covid-19: Das Kreuz mit der Immunität

Eine spannende Debatte steht an, im Zentrum die Frage: Wurde der Schutz der Bevölkerung gegen das «neue» Coronavirus unterschätzt?

, 23. September 2020 um 04:39
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Bild: Yuri Samiolov — Flickr CC 
Sind gewisse Menschen bereits vor einer Infektion immun gegen Covid-19? Im Sommer weitete sich die Diskussion darüber aus – zumindest im angelsächsischen Raum. Wissenschaftliche Studien auf drei Kontinenten hatten gezeigt, dass bei einem erheblichen Prozentsatz der Probanden eine T-Zellen-Reaktion auf Sars-Cov-2 feststellbar war.
Dies wiederum führte zu Folgefragen: Besteht hier ein weitergehender Vor-Schutz gegen das Coronavirus (das man damals noch «neu» nannte)? Falls ja: Wie stark ist er? Und vor allem: wie verbreitet?
Die gesellschaftliche und politische Brisanz dahinter lag auf der Hand: Je ernsthafter und je verbreiteter ein zellulärer Immunschutz, desto eher könnte man über einen entspannteren Umgang mit dem Virus nachdenken. Und desto leichter liesse sich auch die erstrebte «Herdenimmunität» anstreben und erreichen.

20 bis 50 bis 80 Prozent?

Definitive Antworten gibt es bis heute nicht. Doch mittlerweile wurden die Fragen auch in grossen Medien aufwändig diskutiert, von der «New York Times» über CNN bis «El País». Tatsächlich scheint das Immunsystem vieler Menschen durch frühere Kontakte mit Viren aus der Coronagruppe vertraut mit deren Antigenen (oder mit ähnlichen Antigenen) – weshalb ein Teil der Bevölkerung eine gewisse Resilienz aufweisen könnte. Erste kleinere Studien deuteten an, dass der Anteil bei 20 bis 50 Prozent liegen dürfte, eine Arbeit der Universität Tübingen kam sogar auf 81 Prozent (bei einer Auswahl von 185 unexposed Individuen — Preprint)

Schweiz spät…,

In der Schweiz blieb es lange eher ruhig ums Thema. Letzte Woche nahm dann die Schweizer Covid-19 Science Task Force in einem Policy Brief erstmals Stellung – unter anderem auch zur Frage, wie ernst diese «Kreuzimmunität» zu nehmen sei. Der Tenor: vorsichtige Skepsis.
«Es gibt kaum Evidenz, dass normale Erkältungs-Coronaviren neutralisierende Antikörper (nAbs) induzieren, welche mit Sars-Cov-2 kreuzreagieren und ein gewisses Niveau an Schutz vermitteln», so die von Daniel Speiser (Université de Lausanne), Federica Sallusto (Università della Svizzera italiana), Manfred Kopf (ETH Zürich) und Urs Karrer (Kantonsspital Winterthur) publizierte Einschätzung.
Zum Thema: Wer mit Kindern wohnt, hat weniger Covid-19-Risiko. Verblüffende Signale einer Grossstudie bei Spitalangestellten.
Denkbar sei aber, dass solche T-Zellen den Verlauf der Erkrankung positiv beeinflussen; dasselbe sei möglich bei T-Zellen, die durch eine frühere Sars-Cov-2-Infektion entstanden seien. Aber dass eine einstige Ansteckung mit einem gewöhnlichen «Schnupfen-Coronavirus» das Risiko einer Infektion mit Sars-Cov-2 senke – dafür gebe es keine Hinweise.

…Schweiz früh

Einen Tag nach dieser Veröffentlichung, am 17. September, tönte es anders. Da folgte das «British Medical Journal»/BMJ mit einem Metabeitrag: «Covid-19: Do Many People Have Pre-existing Immunity?», so die Überschrift von Autor Peter Doshi. Inzwischen gebe es allzu viele Studien, die bei Menschen ohne Vorkontakt mit Sars-Cov-2 eine Immun-Reaktion belegten – dies könne nicht länger ignoriert werden. Auch habe man mittlerweile starke Indizien, dass es ein früherer Kontakt mit «Common cold»-Coronaviren sei, der diese Immunantwort begründe.
Interessanterweise waren diese Gedanken gerade in der Schweiz früh aufgekommen. Mitte April hatte Pietro Vernazza, Chefarzt Infektiologie am Kantonsspital St. Gallen, es zum Thema gemacht, dass es einen zellulären Immunschutz gegen das «neue» Coronavirus geben könnte. Im Juni hatte Beda Stadler, der ehemalige Direktor des Instituts für Immunologie in Bern, die Hypothese in den Raum gestellt, dass die Immunantwort gegen das Virus viel stärker sei als bislang angenommen. Beide Autoren wurden von den Medien und von der Task-Force ignoriert, sie galten eher als Aussenseiter der Debatte.

«Ein gutes Gefühl»

Der Leitartikel aus London bietet ihnen nun eine erhebliche Unterstützung. Beda Stadler verlinkte den BMJ-Beitrag auf «Facebook» mit der Bemerkung: «Schon ein gutes Gefühl, wenn man endlich wissenschaftlich auf der ganzen Linie recht bekommt. Ja, die Task Force und der Bundesrat müssen wohl oder übel mal ein Paper lesen.»
Pietro Vernazza veröffentlichte am Montag auf «Infekt.ch» einen Aufsatz, worin er auf eine Parallele hinwies: Auch bei der Schweinegrippe 2009 hatten die Epidemiologen anfänglich weitaus schlimmere Verläufe befürchtet, als sie dann eintraten. Eine Erklärung: Auch dort hatte man die zelluläre Immunantwort zuerst gar nicht beachtet.
Vernazza hatte diese Analogie an einer Tagung in Bern Mitte August erwähnt und von einem Déjà-vu gesprochen – ein Begriff, den jetzt auch das BMJ verwendet: 2009 musste die WHO umschwenken und anerkennen, dass die Bevölkerung weniger verletzlich sei. «But by 2020 it seems that lesson had been forgotten», so das britische Leitjournal nun.

Eine Antwort auf offene Fragen?

Zum Thema wurde die «Vorimmunitäts»-Hypothese auch, weil sie diverse offene Rätsel der Covid19-Pandemie erklären könnte. Zum Beispiel die hohe Zahl asymptomatischer Fälle. Oder die regional sehr ungleichen Verläufe. Oder das Phänomen, dass sich in vielen Familien mit einem erkrankten Mitglied am Ende doch nur ein kleiner Teil infiziert (obwohl das Virus andernorts so ansteckend sein kann). Oder dass sich die Epidemie vielenorts weitaus weniger virulent entwickelte als die reinen epidemiologischen Modellrechnungen hatten befürchten lassen – nicht nur in Schweden.
Entscheidend bleibt aber, wie verbreitet solch ein Schutz denn wäre – und wie stark. Und wie sehr er dazu beiträgt, die Schwelle einer «Herdenimmunität» früher zu erreichen als bislang noch erwartet. Das gilt es jetzt in weiteren Studien klären.
Für die Schweizer Covid-Task-Force besteht derzeit kein Grund, vom jetzigen Prinzip abzugehen, die Infektionsraten so niedrig wie möglich zu halten. Selbst dem Antikörper-Schutz wird nicht ganz getraut: «Die durch natürliche Infektion induzierten Antikörperreaktionen sind häufig schwach und kurzlebig und können daher nur begrenzten Schutz bieten.» 
Wir bei Medinside suchen derzeit weitere Einschätzungen von Experten. 

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