Harsche Kritik am Gesundheitswesen: Qualität und Patientensicherheit ungenügend

Ein vom BAG in Auftrag gegebener Bericht zur Qualität und Sicherheit der Schweizer Gesundheitsangebote listet eine Vielzahl von Problemen auf. Hauptkritik: Die mangelnde Transparenz bezüglich der Qualität.

, 11. November 2019 um 11:15
image
Im Schweizerischen Gesundheitswesen läuft vieles nicht rund. Zu diesem Schluss kommt der Nationale Bericht zur Qualität und Patientensicherheit im schweizerischen Gesundheitswesen, der vom Bundesamt für Gesundheit in Auftrag gegeben wurde. Die Versorgungsqualität und die Patientensicherheit wiesen ein erhebliches Verbesserungspotenzial auf, konstatiert der Bericht. Hauptkritik: Die «mangelnde Transparenz über die Qualität» im Gesundheitswesen. Als Folge davon lägen zu wenig Informationen vor, um effektive Verbesserungen vorzunehmen. 
In seiner Präsentation sprach Anthony Staines, einer der beiden Studienautoren, von «beunruhigenden Fakten». Als Kernbefunde nannte er Folgendes: 
  • Die Medikation von 22,5 Prozent der über 65-Jährigen in der Schweiz ist potenziell inadäquat.
  • Zwischen 8 und 15 Prozent der Patientinnen und Patienten werden während ihres Spitalaufenthalts Opfer eines unerwünschten Arzneimittelereignisses.
  • Eine Studie in einem Schweizer Spital ergab, dass 12,3 Prozent der Patientinnen und Patienten während ihres Aufenthalts zu Schaden kommen. Fast die Hälfte dieser Fälle ist vermeidbar.
  • Bei hospitalisierten Erwachsenen beträgt die Dekubitusrate 4 Prozent und die Sturzrate 3,8 Prozent.
  • Aus der Auswertung der letzten nationalen Handhygiene-Kampagne ging hervor, dass die Good Practices nur in 53 Prozent der Fälle befolgt wurden.
  • Gemäss einer nationalen Studie in den Pflegeheimen litten 1,7 Prozent der Bewohnerinnen und Bewohner während ihres Aufenthalts an Dekubitus, 2 Prozent stürzten und verletzten sich dabei, 5,1 Prozent hatten sich in den vorangegangenen 30 Tagen Harnwegsinfektionen zugezogen.
  • 2011 ergab eine Querschnittsbefragung in Schweizer Spitälern, dass 38 Prozent keine Strategie planten, um das Personal zur offenen Besprechung von Fehlern mit den Patientinnen und Patienten zu ermutigen.

«Wir sind enttäuscht»

In ihrem Schlusswort schreiben die Autoren, dass sie viele Probleme identifiziert hätten, die angegangen werden müssten. «Man könnte daraus den einfachen wenn auch falschen Schluss ziehen, dass wir kein Vertrauen in das schweizerische Gesundheitssystem haben», schreiben die Autoren weiter. Doch das Gegenteil sei der Fall.
Sie hätten grossen Respekt vor der Leistung und dem Engagement aller, die in der Gesundheitsversorgung arbeiten oder an der Leitung und Steuerung des Gesundheitssystems beteiligt sind. «Dennoch sind wir enttäuscht». Denn es könnte «so viel mehr unternommen werden, um die Gesundheitsversorgung zu verbessern und nachhaltig zu sichern, indem einige offensichtliche Mängel behoben werden.»

Das sind die Empfehlungen der Studienautoren:


  1. Bessere Einbeziehung von Patientinnen, Patienten und Betreuenden als Partnerinnen und Partner - "Die Schweizerinnen und Schweizer wissen mangels verfügbarer Informationen sehr wenig über die Standards der erbrachten Versorgungsleistungen, und die Patientenorganisationen sind in der Steuerung des Gesundheitssystems nicht angemessen vertreten. Die Patientinnen und Patienten könnten eine viel grössere Rolle spielen, indem sie Rückmeldungen zu ihren Erfahrungen mit der Gesundheitsversorgung geben, die Krankenakten auf Korrektheit und Vollständigkeit prüfen, spezifische Anliegen vorbringen und sich zu Behandlungsqualität und Patientensicherheit äussern.
  2. Gleicher Zugang für alle  - "Es gibt Hinweise, dass benachteiligte Bevölkerungsgruppen den Zugang zur Gesundheitsversorgung weniger leicht finden und ihre Versorgung nicht immer dem üblichen Standard entspricht."
  3. Motivation und Unterstützung der Gesundheitsfachkräfte stärken - "Mitarbeitende, die sich motiviert, unterstützt und befähigt fühlen, erbringen qualitativ hochwertigere Leistungen. Der Mangel an qualifizierten Fachkräften in der Schweiz ist ein zusätzlicher Anreiz, das System so auszugestalten, dass die Fachkräfte ihre Arbeit als sinnvoll und erfüllend erleben. Eine starke Sicherheitskultur ist für die Verbesserung von Qualität und Patientensicherheit zentral und muss in der Schweiz höher gewichtet werden. Wir empfehlen zudem nachdrücklich, den konkreten Aufbau einer Gemeinschaft von Fachleuten aus allen relevanten Fachgebieten zu fördern, die auf die Verbesserung von Qualität und Patientensicherheit hinarbeiten."
  4. Stärkung von Qualitäts- und Sicherheitsinformationen - " In der Schweiz fehlen national anerkannte Qualitäts- und Sicherheitsindikatoren, insbesondere in der Langzeitpflege, der ambulanten Versorgung und der Pflege zu Hause. Ressourcenmässig gut ausgestattete Datenerfassungssysteme sind nötig, um das Volumen von Prozess- und rgebnismessungen massiv zu erhöhen. Nachdem dieses Thema jahrzehntelang nur am Rande angegangen wurde, hinkt die Schweiz vergleichbaren europäischen Systemen deutlich hinterher. Es bedarf nationaler Anstrengungen, um ein umfassendes System von Qualitäts- und Sicherheitsindikatoren für alle Bereiche der Gesundheitsversorgung zu entwickeln, das landesweit zu vertretbaren Kosten eingeführt werden kann."
  5. Besser Unterstützung für Patientinnen, Patienten, Betreuende und Personal nach schädigenden Ereignissen
  6. Besser Ausbildung, Schulung und Forschung in den Bereichen Qualität und Patientensicherheit - "Um die Herausforderungen zu bewältigen, denen das Schweizer Gesundheitssystem heute und morgen gegenübersteht, sind auch Schulungen in Bereichen wie Qualitätsmanagement, Human Factors und Implementation Science notwendig. Alle Akteure des Systems, wie politische Entscheidungsträgerinnen und Entscheidungsträger, CEOs, operative und klinische Führungskräfte und Mitarbeitende, müssen Zugang zu diesen Schulungsprogrammen haben."
  7. Aufbau der notwendigen Voraussetzungen und Fähigkeiten für eine sichere, hochwertige Versorgung - "Um organisationsweit nachhaltige Verbesserungen zu erzielen, ist eine Qualitätsinfrastruktur nötig. Dazu gehören ein Netzwerk von führenden Verbesserungsfachleuten, die Unterstützung der Führung, Datensysteme, Indikatoren und Dashboards sowie Unterstützungsstrukturen für die Verbesserung von Behandlungsqualität und Patientensicherheit."
  8. Nationale Programme zur Verbesserung der Patientenversorgung - "Wenn Probleme landesweit bekannt und evidenzbasierte Best Practices verfügbar sind, sollten nationale Programme zur Verbesserung von Behandlungsqualität und Patientensicherheit umgesetzt werden. Für die verschiedenen Themen und Bereiche der Gesundheitsversorgung sollten jeweils mehrere nationale Programme parallel laufen."

Den ganzen Bericht kann hier nachgelesen werden.
Artikel teilen

Loading

Comment

Mehr zum Thema

image

Spital Thusis budgetiert nochmals deutlichen Verlust

Der Stiftungsrat der Gesundheit Mittelbünden sucht weiter nach neuen Wegen in die Zukunft.

image

Fragen statt suchen: Das Kantonsspital Baden hat nun eine KI-Webseite

Das KSB hat seinen Webauftritt umgebaut. Kernstück ist ein KI-Bot, der direkt die Fragen der Besucher beantwortet.

image

H+: Vorstand ist wieder komplett

Monika Jänicke, David Bosshard, Susanne Rodewald und Guido Speck sind neu im Vorstand des Spitalverbandes.

image

CHUV: Gericht schiebt IT-Beschaffung auf die lange Bank

Bevorzugen Schweizer Spitäler bei ihren Ausschreibungen für ein neues Klinikinformations-System den US-Anbieter Epic? Die Frage wird auch in der Romandie akut.

image

Unispitäler häuften 210 Millionen Franken Verlust an

«Wir sind hart vor der finanziellen Kante»: So der Befund von Werner Kübler, dem Direktor des Universitätsspitals Basel.

image

Auch Graubünden will Spitäler mit 100 Millionen stützen

Das Geld würde aber nicht direkt an die Betriebe gehen. Zudem sollen Spitäler leichter in Gesundheitszentren verwandelt werden können.

Vom gleichen Autor

image

Covid-19 ist auch für das DRG-System eine Herausforderung

Die Fallpauschalen wurden für die Vergütung von Covid-19-Behandlungen adaptiert. Dieses Fazit zieht der Direktor eines Unispitals.

image

Ein Vogel verzögert Unispital-Neubau

Ein vom Aussterben bedrohter Wanderfalke nistet im künftigen Zürcher Kispi. Auch sonst sieht sich das Spital als Bauherrin mit speziellen Herausforderungen konfrontiert.

image

Preisdeckel für lukrative Spitalbehandlungen?

Das DRG-Modell setzt Fehlanreize, die zu Mengenausweitungen führen. Der Bund will deshalb eine gedeckelte Grundpauschale - für den Direktor des Unispitals Basel ist das der völlig falsche Weg.