Herr Martinelli, Sie monieren, die Lieferengpässe für Medikamente seien auf einem neuen Rekordhoch. Wie ist die Situation im Moment?
Enea Martinell: Im Moment haben wir 473 Lieferengpässe. Das ist problematisch.
Worin besteht das Problem in der Praxis?
Man muss kurzfristig reagieren. Und man weiss nie, wie lange die Engpässe dauern.
Der Verband Interpharma sagt, dass die meisten Lieferengpässe kurzfristiger Natur seien.
Das stimmt. Doch wenn eine Engpassmeldung eingeht, weiss man meist nicht, wie lange diese dauern wird. In all diesen Fällen muss man reagieren. Das ist aufwendig und eigentlich nicht Hauptaufgabe eines Spitalapothekers.
Was tun Sie, wenn ein zeitlich unbestimmter Lieferengpass droht?
Dann prüfen wir, ob es Alternativen gibt. Falls es solche gibt, muss man abklären, ob sie für den medizinischen Zweck adäquat sind. Falls einer diese Punkte nicht zutrifft, müssen wir uns im Ausland nach Alternativen umsehen.
Und wenn es dort keine gibt?
Dann müssen wir die Therapie anpassen. Dann ergeht eine Information an alle unserer 150 Ärztinnen und Ärzte. Diese denken dann oft, wir hätten die Bestellung vergessen.
Der 53-jährige Enea Martinelli ist Vorstandsmitglied des Schweizerischen Vereins der Amts- und Spitalapotheker. Er leitet die Spitalapotheke der FMI AG, die an den Standorten Interlaken, Frutigen Akutspitäler betreibt.
Das Bundesamt für wirtschaftliche Landesversorgung (BWL) sagt, die Zahl der Engpässe nehme ab. Weshalb kommen Sie zu einem anderen Schluss?
Auf der Medikamentenliste des BWL sind einzig lebenswichtige Wirkstoffe aufgeführt, bei denen kurzfristige Lieferengpässe dramatische Folgen haben können. Bei diesen Wirkstoffen gibt es zufällig eine Abnahme. Im Gesamtbild aller Medikamente sieht die Entwicklung völlig anders aus.
Wie stark ist denn diese Zunahme?
Als ich vor drei Jahren mit meiner Datenbank begonnen habe pendelte die Zahl zwischen 100 und 200 Engpässen. Im letzten Frühling stieg die Zahl auf 300. Nun sind wir wie gesagt bei 470. Eine kürzlich publizierte kanadische Studie kommt zum Schluss, dass es in den letzten vier Jahren eine Verdoppelung gegeben hat.
Was sind die Gründe dafür?
Das hat mehrere Ursachen. So erlegen sich Pharmahersteller intern selber einen Kostendruck auf. Deshalb produzieren sie einen Wirkstoff häufig nur an wenigen Standorten. Wenn es an einem Standort Qualitätsprobleme gibt oder ein Werk ausfällt, wirkt sich das auf den Markt oft stark aus. Zudem nimmt die Verfügbarkeit von Wirkstoffen generell ab. Gerade im Bereich der Grundversorgung sind ältere Präparate nicht lukrativ für die Hersteller. Auch steigt die Nachfrage in Schwellenländern an. Bei geringer Verfügbarkeit wirkt sich dies weltweit aus. Denn der Medikamentenmarkt ist globalisiert.
Was sind die Folgen davon?
Als Hurrikan Maria das den USA angegliederte Puerto Rico verwüstete, wurden viele der dort produzierenden Betriebe in Mitleidenschaft gezogen. Puerto Rico ist ein wichtiger Wirkstoffhersteller. Es kam zu Lieferengpässen in die USA. Doch weil die Medikamentenpreise in den USA wegen fehlender Regulierung viel höher sind als etwa in Europa, wurden für den europäischen Markt bestimmte Medikamente in die USA geliefert. Zum eigentlichen Engpass kam es deshalb hier bei uns.
Es scheint schwierig, hier Gegensteuer geben zu können.
Das ist so. Was man ändern könnte und mich am meisten stört, ist die fehlende Transparenz der Lieferanten. Diese müssen endlich frühzeitig und umfassend informieren. Bei der Industrie scheint das Bewusstsein zu fehlen, dass die Lieferengpässe die Patienten treffen. Diese werden verunsichert. Auch wird deren Sicherheit gefährdet.
Diese Woche machten auch drohende Lieferengpässe bei Medizinalprodukten Schlagzeilen. Bereiten Ihnen diese auch Sorgen?
Schon auch. Wobei dort die Auswirkungen weniger gross sind. Denn davon sind vor allem Fachleute betroffen. Diese können damit besser umgehen. Bei den Medikamenten sind dagegen die Patienten direkt betroffen.