Spitäler mit verkürzter Lebenserwartung

Die grosse Mehrheit der Spitäler verdient zu wenig Geld, um investieren zu können. Die Branche steht deshalb vor einem Strukturwandel. Derweil werden die Forderungen nach Spitalschliessungen immer lauter.

, 23. August 2019 um 09:34
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Die grosse Mehrheit der Spitalunternehmen geschäftet nicht nachhaltig. Um mittel- und langfristig alle Investitionen tätigen zu können, müssten Spitäler 10 Prozent des Umsatzes vor Gewinn, Zinsen, Steuern und Abschreibungen (EBITDA-Marge) erwirtschaften. Das sagen Experten - aber auch der Spitalverband H plus. Doch in der Praxis erreicht kaum ein Spital diese Vorgabe, wie Medinside letzte Woche in einer Hintergrundrecherche beleuchtete. Die Schieflage stellt das Gesundheitswesen und die Schweiz als Gesellschaft vor grosse Probleme. Doch was sind die Gründe für die EBITDA-Krise – und was muss sich ändern, dass die Spitäler aus dieser Misere herausfinden?

Goldgräberstimmung im Spitalwesen

Annamaria Müller, die langjährige und auf Ende Jahr abtretende Berner Spitalamtchefin, ortet den Beginn der Schieflage bei der Einführung der neue Spitalfinanzierung. Und sie spart nicht mit harscher Kritik an den Spitälern. 
Die neue Spitalfinanzierung sei der «Startschuss für ein «goldgräberhaftes Verhalten» im Spitalwesen» gewesen. Anschliessend habe ein «Run auf die lukrativen Patienten»  begonnen. Im Kanton Bern, wo sowohl die Reglementierungen als auch öffentliche Zustüpfe vergleichsweise gering seien, herrschten Zustände «wie im Wilden Westen», so Müller. Die Spitäler verfolgten dabei ein relativ simples Konzept: «Möglichst viele Patientinnen und Patienten aus Fallgruppen mit hohen Gewinnmargen behandeln und bei allen anderen Behandlungen möglichst auf Menge machen, um Skaleneffekte zu generieren - Verlustbringendes wie Geburtshilfe oder Kindermedizin werden dagegen abgewimmelt oder nachrangig behandelt.»
Um lukrativen Patienten, Operateuren und den Zuweisern zu punkten, würden die medizinische Stars engagiert, Zuweiser gewonnen und die Infrastruktur aufgemotzt. «Und so wurde gebaut, auf Teufel komm raus, damit alles bereit ist, um die herbeiströmenden Patienten und Fachkräfte zu empfangen», sagt Spitalamtchefin Müller. Doch damit hätten die Probleme angefangen.

«Spektakuläres Grounding»

Denn die Strategien gehen nicht auf: «Die Fachkräfte sind rar und teuer, und Patienten lassen sich in der Regel für ein und dasselbe Leiden nur einmal und an einem Ort behandeln. » Und dann kämen aus Sicht der Spitäler auch noch die «bösen Behörden», sagt Müller sarkastisch. Diese strichen die Operationslisten zusammen, schrieben ambulante Behandlungen vor oder senkten Tarifstrukturen. Dann gehen die Geschäftsmodelle der Spitäler definitiv nicht mehr auf, sagt Müller. «Und die EBITDA-Marge setzt zum spektakulären Grounding an.»

«Wer stationär nicht kostendeckend arbeitet, hat Strukturprobleme»

Beim Spitalverband H plus sieht man die 2012 eingeführte neue Spitalfinanzierung nicht als Ursache der Probleme. Im Gegenteil: Das Fallpauschalensystem funktioniere insgesamt gut. Zum selben Schluss kam auch die im Sommer publizierte Schlussevaluation des BAG zur Spitalfinanzierung. Im stationären Bereich könnten die meisten Spitäler kostendeckend arbeiten und auch genügend Marge erzielen, um ihre Investitionen zu finanzieren, sagt H plus. «Spitäler, die im stationären Bereich nicht kostendeckend arbeiteten, haben meist Struktur- oder Effizienzprobleme.»

Wie gross ist der Einfluss der zu tiefen Tarife?

Doch was ist dann die Ursache für die ungenügenden Margen? H plus sagt, am Anfang der sinkenden EBITDA-Margen der Spitäler stünden die «seit über einem Jahrzehnt zu tiefen Tarifierungen von wichtigen Spitalleistungen im Tarmed» – sowie die «zwei Tarifeingriffe des Bundesrates». Diese würden die Spitäler empfindlich treffen. Derzeit laufen verschiedene – unter den Akteuren grundsätzlich umstrittene – Bestrebungen, die ambulante Tarifstruktur zu erneuern. In der Spitalbranche geht man nach Rückmeldungen der Politik davon aus, dass ein solcher Tarif frühestens in zwei Jahren in Kraft treten wird.
Weniger drastisch als H plus schätzt der Gesundheitsökonom Heinz Locher den Einfluss der teilweise zu tiefen ambulanten Tarife ein. Locher schätzt, dass die Tarife nur etwa zu einem Viertel zu den tiefen EBITDA-Margen beitragen.

Neue Tarifstruktur frühestens in zwei Jahren

Klar ist auch: Die sinkenden EBITDA-Margen werden den bereits eingesetzten Strukturwandel und die Veränderungen in der Spitallandschaft beschleunigen. Durch ein Anpassen der Strukturen können Spitäler ihre EBITDA-Marge verbessern, sagen auch die Experten von H plus. Dies etwa durch folgende Massnahmen:
  • Arbeitsteilung: Spitalunternehmen konzentrieren Angebote innerhalb einer Spitalgruppe an einzelnen Standorten oder über Unternehmensgrenzen hinweg. So können Dienstleistungen weiter lokal angeboten werden, die Kosten werden aber gesenkt und Synergien genutzt.
  • Spezialisierung: Nicht mehr alle Spitäler müssen alles anbieten. So können Synergien genutzt werden.
  • Abteilungsschliessungen: Abteilungen, die gewisse Fallzahlen nicht erreichen, können geschlossen werden.

Krankenkassen bezichtigen Spitäler des Gesetzesbruchs

Für den Krankenkassenverband Curafutura haben dennoch viele Spitäler «ihre Hausaufgaben punkto Strukturbereinigung nicht oder nicht rechtzeitig erledigt.» Bei Curafutura ist man überzeugt: «Viele der aktuellen Investitionsprojekte in stationären Einrichtungen orientieren sich an vergangenen Versorgungsmodellen». Die bestehende Infrastruktur werde ersetzt oder ausgebaut. Zudem lasse auch «die Bildung von Schwerpunkten zu wünschen übrig.» So seien nur wenige Spitäler bereit, auf bestimmte Leistungsaufträge zu verzichten und Leistungen mit anderen Häusern im gleichen Kanton, geschweige kantonsübergreifend zu koordinieren. Dies obwohl genau das gesetzlich vorgeschrieben sei.

Schliessungen gefordert

Auch der Gesundheitsökonom Heinz Locher begrüsst Vorschläge wie die Vernetzung oder die Zusammenarbeit mit anderen Organisationen explizit. Doch geht ihm dies zu wenig weit. Die Spitäler müssten sich Fragen stellen: Braucht es uns noch? Für was genau?
Locher findet, es gebe sinnvolle Aufgaben für Spitäler. Dies aber meist, indem die Spitäler ihre Angebote nach unten anpassen und Grundversorgung anbieten. Nicht nur müsse nicht alles überall angeboten werden, es sei «auch wichtig, dass es auch zu Spitalschliessungen kommt.»
Das finden auch die Krankenversicherer. Der Kassenverband Curafutura teilt auf Anfrage mit, die sinkenden EBITDA-Margen seien «vor allem ein Ausdruck dafür, dass die notwendige Konsolidierung der stationären Versorgungsstrukturen nur sehr schleppend voranschreitet.» Sowohl die Anzahl der Spitäler als auch die Anzahl der Spitalbetten hätten sich gegenüber 2012 nur geringfügig verändert, moniert der Verband. Auch Santésuisse sieht «weiterhin Anpassungsbedarf im Spitalangebot».

Jedem Täli sein Spitäli

Beim Spitalverband H plus ist man derweil überzeugt: Spitalschliessungen sind aus politischen Gründen meist unerwünscht. Je nach Eigentumsverhältnis und kantonaler Gesetzgebung müssten sie zudem gar vom Volk an der Urne beschlossen werden. Der Verband setzt deshalb auf die erwähnten Umstrukturierungen und Arbeitsteilungen. Denn diese lägen meist im Verantwortungsbereich der verselbstständigten Spitäler und Spitalgruppen. Dieser Strukturwandel gehe darum auch schneller voran als Spital- oder Standortschliessungen.
Das Schliessungen politischen Widerstand erzeugen, sieht auch Locher als Realität an. Deshalb müsse die Gesundheitspolitik endlich aus der Geiselhaft der Regionalpolitik befreit werden. Letztere behindere eine sinnvolle überregionale Spitalpolitik. 
Locher ist gleichzeitig überzeugt, dass die Zeit für ein Umdenken sorgen wird. Denn wenn ein Spital in finanzielle Schieflage gerate, würde das Problem zuerst geleugnet, hat er beobachtet. Dann würden Beiträge für Gemeinwirtschaftliche Leistungen (GWL) bezahlt. Dann würden diese Beiträge erhöht. Irgendwann würden die Staatsbeiträge so hoch, dass die Politik reagiere müsse. Dann werde reagiert – und grundsätzliche Reorganisationen durchgeführt. Auch Schliessungen würden dann ein Thema.

Durchgezogenes Fazit

Es ist wie so oft im Gesundheitswesen. Zwar erkennen die Akteure teilweise die gleichen Defizite. Wenn es darum geht, diese konkret anzugehen, gehen die Meinungen weit auseinander. Kantone, Versicherer, Spitäler – alle haben sie ihre eigene Sicht und ihre eigenen Interessen.
Und was sagt der Bund, der mit der KVG-Revision die Grundlagen für die Spitalplanungen legte und vorgibt – und der die von den Spitälern kritisierten Tarifeingriffe im ambulanten Bereich verantwortet? Kaum etwas, wie eine Anfrage beim Bundesamt für Gesundheit zeigt. «Die Spitalplanung liegt in der Verantwortung der Kantone», teilt ein Sprecher mit. Und die Tarife der Spitäler würden zwischen den Tarifpartnern ausgehandelt. «Daher sind wir nicht in der Lage, Ihnen die Gründe für die tiefen EBITDA-Margen zu erklären.» 
Der Bund übergibt die Verantwortung an die einzelnen Akteure - und diese sind sich teilweise ziemlich uneinig. Die EBITDA-Krise, sie dürfte also noch etwas anhalten.

Teil 2 der Serie: EBITDA-Krise - Spitäler in Schieflage

Im ersten Teil beleuchtet Medinside letzte Woche, weshalb das Erreichen der 10-Prozent-EBITDA-Marge für Spitalunternehmen wichtig ist - aber der Wert doch fast nirgends erreicht wird.
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