Frage: Ist der jüngste Tarmed-Eingriff des Bundesrates juristisch wasserdicht? Antwort der Experten des Bundesamtes für Justiz: Wir wissen es auch nicht. So jedenfalls lässt sich ein Beitrag zusammenfassen, der heute in
«Tages-Anzeiger» und
«Der Bund» erschienen ist.
Danach erbat das Bundesamt für Gesundheit in Spätsommer bei den Kollegen vom Bundesamt für Justiz eine Einschätzung. Und per E-Mail machte ein BJ-Vertreter dann einen «generellen Vorbehalt»: Das Amt sei nicht in der Lage, «substanziell» abzuschätzen, ob die Änderungen dem gesetzlichen Erfordernis der Wirtschaftlichkeit entsprächen und zu einer sachgerechteren Tarifstruktur führten.
Die Krux liegt im Wörtchen Sachgerechtigkeit, aber auch in der Frage, was unter Wirtschaftlichkeit zu verstehen ist.
«Geständnis der Hilflosigkeit»
Denn das KVG verlangt, dass die Tarmed-Gestaltung diesen beiden Prinzipien folgt. Und ob dies erfüllt war, war schon beim ersten Bundesrats-Eingriff von 2014 diskussionswürdig: Laut einem Urteil des Luzerner Kantonsgerichts verstiess die Landesregierung damals gegen das Gebot der Sachgerechtigkeit, weil sie bei der Ausgestaltung der Tarife vor allem das Ziel verfolgte, Hausärzte besser zu stellen. Dies aber, so das Gericht, sei ein politischer Plan – und eben nicht in der Sache begründet.
Wie bekannt, muss das Luzerner Urteil noch Bestand haben vor dem Bundesgericht.
Die Recherchen der Tamedia-Zeitungen deuten nun aber an, dass der Bundesrat in Sachen Sachgerechtigkeit auch beim Tarifeingriff 2018 auf dünnem Eis steht. Das BAG hatte in einem Papier zum Tarmed-Eingriff an den Bundesrat geschrieben: «Es ist davon auszugehen, dass die Leistungen nach wie vor kostendeckend erbracht werden können» – bei Einsparungen von mehr als 300 Millionen Franken. Das sei «ein Geständnis der Hilflosigkeit», kommentierte das Bundesamt für Justiz in seiner Antwort. Die Unterlagen liegen der Zeitung vor.
Politisch? Oder sachlich?
Schon im Vernehmlassungsverfahren hatten diverse Organisationen auf diesen Punkt verwiesen: Bundesrat Berset sei es bei den Tarifanpassungen primär darum gegangen, die Kosten zu halten; er verlangte schon in den Verhandlungen unter den Partnern Kostenneutralität – und verkündete dann, 700 Millionen einsparen zu wollen. Auch dies könnte als rein politisches Ziel beurteilt werden.
- So schrieb der Verband der Haus- und Kinderärzte mfe damals, dass die offen geforderte Kostenneutralität einen sachgerechten und wirtschaftlichen Tarif verhindere.
- Die Kardiologen-Gesellschaft SGK kommentierte: Dass der Bundesrat gleich 700 Millionen Franken pro Jahr einsparen will, zeige, «dass es ihm nicht um einen sachgerechten und zweckmässigen Eingriff, sondern um eine rein politische Intervention geht».
- Und an dieser Stelle stellte der Solothurner Rechtsanwalt Michel Meier fest: «Der Eingriff basiert ausschliesslich auf den Vorschlägen der Versicherer, was bereits die gesetzlich bedingte Sachgerechtigkeit von vorne weg ausschliesst.»
Vorbehalte von Hirslanden, USZ, USB, Insel
Genau diesen Punkt greift nun auch Bernhart Wegmüller auf, der Direktor des Spitalverbands H+: Das BAG habe sich weitgehend auf Daten von Krankenversicherern abgestützt – aber: «Die Plausibilisierungen und Annahmen der Versicherer genügen nicht zur Erfüllung der gesetzlich geforderten Vorgaben der Sachgerechtigkeit und Wirtschaftlichkeit», so Wegmüller im Tagi.
H+ habe seinen Mitgliedern denn auch empfohlen, alle Rechnungen für ambulante Leistungen mit einem Vorbehalt zu versehen.
In der Tat habe die Hirslanden-Gruppe auf allen jenen Rechnungen einen Vorbehalt angebracht: Man werde Rückforderungen geltend machen, falls die Anpassungen der Tarifstruktur für ungültig erklärt werden oder nicht angewandt werden dürfen. Ähnlich gehen auch öffentliche Spitäler vor – darunter USZ, USB und Inselspital.
«Risiko für einen totalen Schiffbruch»
Der
Verband der Privatkliniken Schweiz PKS nimmt den «Tagesanzeiger»-Bericht zum Anlass, eine Kehrtwende zu fordern. «Unkoordinierten Blindflug abbrechen!», so der Titel der heute versandten Stellungnahme.
Der neuste Eingriff verursache maximale Rechtsunsicherheit: «Dieses Chaos hat der Bundesrat mit der unsorgfältigen Vorbereitung seiner weder sachgerecht noch betriebswirtschaftlich bemessenen Tarifeingriffe zu verantworten.»
Zurück an den Verhandlungstisch
Nun bestätige selbst das Bundesamt für Justiz die Vorbehalte, die bereits letztes Jahr angeführt worden seien. «Nun steigt das Risiko für einen totalen Schiffbruch zulasten der Prämienzahler. Der Bundesrat hat offenbar wissentlich maximale Rechtsunsicherheit geschaffen und ist bewusst das Risiko von jahrelangen Streitigkeiten und hunderten von Millionen Rückforderungen eingegangen.»
Es sei nun dringende Aufgabe des Bundesrates, die Tarifpartner an den Verhandlungstisch zurückholen. «In einem strukturierten und befristeten Prozess sind alle Tarifpartner gefordert, ihre Verantwortung endlich wahrzunehmen und die Überarbeitung der Tarmedstruktur konstruktiv und mit Augenmass etappenweise zum Abschluss zu bringen.»