Völlig unbekannt ist es ja nicht: Mit einer gewissen Regelmässigkeit tauchen Fälle auf, wo eine medizinische Fachperson mehrere Patienten getötet hat. Fälle, wo es nicht etwa um Sterbehilfe geht, sondern um Mord im juristischen Sinne. Fälle, bei denen die Boulevardzeitungen von «Todespflegern» beziehungsweise «Todesschwestern» zu schreiben pflegen.
Auch in der Schweiz entpuppte sich ein Pflegefachmann als grösster Serienmörder der Landesgeschichte: 2005 wurde er vom Luzerner Kriminalgericht wegen 22 Mordfällen und fünf Mordversuchen zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt.
«Beratung bei suspektem Verhalten»
In Deutschland ging nun der Psychiater Karl H. Beine der Frage nach, ob hinter diesen bekannten Fällen eine Grauzone respektive ein dunkler Bereich liegt – und wie gross dieser sein könnte.
Auslöser war, dass Bein einst selber in einer Klinik arbeitete, wo ein Pfleger Patienten getötet hatte. Und immerhin, so seine Feststellung, wurden in den letzten Jahren allein im deutschen Sprachraum zehn Tötungsserien bekannt. «Ausserdem bin ich in den vergangenen 25 Jahren häufiger um Beratung bei suspektem Verhalten gebeten worden», sagte der
Psychiater im Interview mit «Die Zeit».
Karl H. Beine | PD Uni Witten/Herdecke
Karl Beine ist Chefarzt am St. Marien-Hospital Hamm und Professor für Psychiatrie und Psychotherapie an der Universität Witten/Herdecke. Für sein neues Buch
«Tatort Krankenhaus» , jetzt erschienen und verfasst mit der Wissenschaftsjournalistin Jeanne Turczynski, machte er eine Umfrage: 5055 Kranken- und Altenpfleger sowie Ärzte beteiligten sich daran. Die Kernfrage darin: «Haben Sie selbst schon einmal aktiv das Leiden von Patienten beendet?» 3,4 Prozent der Ärzte, 1,8 Prozent der Altenpfleger und 1,5 Prozent der Krankenpfleger antworteten mit «Ja».
«Nicht gesichert»
Zur Kontrolle wurde auch gefragt, ob man in den vergangenen Monaten «schon einmal von einem oder mehreren Fällen» gehört habe, «bei denen an Ihrem Arbeitsplatz das Leiden von Patienten aktiv beendet wurde».
In der Ankündigung des Buches findet sich nun eine Hochrechnung dazu: Durch das Spital- oder Heimpersonal könnten in Deutschland bis zu 21'000 Menschen jährlich sterben.
Wirklich? Beine selber ist vorsichtiger, in einer
Stellungnahme der Universität Witten/Herdecke sagt er: «Unsere Untersuchung besagt nicht, dass nun gesichert von vielen tausend Mord- oder Totschlagsdelikten pro Jahr in Deutschland auszugehen ist.» Denn unter den «Ja»-Antworten sei vermutlich auch eine unbestimmte Anzahl von lebensbeendenden Massnahmen, die der passiven Sterbehilfe zuzuordnen sind. Aber eben auch eine Anzahl Tötungen ohne explizite Willensäusserungen der Patienten.
Nicht unter Generalverdacht stellen
Für Karl Beine sind die Zahlen ein Anfang. Klar sei damit, dass das medizinischen Personal nicht über Generalverdacht gestellt werden kann. «Andererseits sind die Ergebnisse aber ein wichtiges Indiz dafür, dass die behaupteten Einzelfälle keine sind».
Insgesamt aber erscheint die Zahl der 21'000 Toten eher Propaganda-Getrommel. Andererseits soll der Verweis auf das grundlegende Problem sensibilisieren. Wenn es keine Einzelfälle sind, hat man es auch mit strukturellen oder kulturellen Phänomen zu tun – und da könnten auch die Patienten auf Signale achten.
«Sich darauf einstellen…»
Bei der erwähnten Opferzahl bekomme man doch Angst davor, ins Spital zu gehen, meinten die «Zeit»-Redakteure im Gespräch mit dem Psychiater: «Was würden Sie einem Leser raten?»
Beins Antwort: «Die Augen offen zu halten. Auf die Atmosphäre zu achten. Wie sprechen die Ärzte und Pfleger mit ihm? Sprechen sie überhaupt mit ihm? Er sollte sich darauf einstellen, dass Angestellte in Krankenhäusern extrem gestresst und genervt sein können. Und sich umhören, welche Klinik andere ihm empfehlen.»