Das Universitätsklinikum HDZ NRW ist mit fünf Kliniken und drei Universitätsinstituten speziell auf die Versorgung schwerkranker Herzund Diabetespatienten ausgerichtet. Einen Schwerpunkt bilden Hochrisikopatienten aller Altersstufen. Das erfordert nicht nur eine besondere Betreuung und entsprechend ausgebildetes Pflege- und ärztliches Personal, sondern auch einen großen Wissens- und Erfahrungsschatz. Entsprechende Daten sammelt das HDZ NRW bereits seit 2007 im Krankenhaus-Informationssystem (KIS)
ORBIS von Dedalus HealthCare, das flächendeckend für das gesamte Klinikum im Einsatz ist. Nach ihrem Wechsel aus München im Jahr 2018 mussten sich auch Prof. Dr. Vera von Dossow, Direktorin des Instituts für Anästhesiologie und Schmerztherapie, und ihr Oberarzt Dr. Nikolai Hulde an das für sie neue KIS gewöhnen. „Das ging allerdings leicht und schnell, weil die Anwendung die Orientierung leicht macht“, blickt Prof. von Dossow zurück. Zudem wurde speziell für das HDZ NRW ein Tool zur Prämedikation und präoperativen Evaluation programmiert. Ein weiteres zur Erfassung der präoperativen Gebrechlichkeit der Patienten ist in Arbeit. ORBIS ermöglicht auch eine flexible Integration des Patientendaten-Managementsystems COPRA. Daraus übernimmt das KIS die intraoperativen Narkoseprotokolle und stellt sie in der elektronischen Patientenakte dar.
Herz- und Diabeteszentrum NRW
Als Spezialklinik zur Behandlung von
Herz-, Kreislauf- und Diabeteserkrankungen zählt das Herz- und Diabeteszentrum Nordrhein-Westfalen (HDZ NRW), Bad Oeynhausen, mit 35.000 Patienten pro Jahr, davon rund 15.000 in stationärer Behandlung, zu den größten und modernsten Zentren seiner Art in Europa.
Unter einem Dach arbeiten fünf Universitätskliniken und Institute seit über 35 Jahren interdisziplinär zusammen. Das HDZ NRW ist Universitätsklinik der Ruhr-Universität Bochum
KIS-integrierte Entscheidungsunterstützung
Eine gezielte und strukturierte Datenauswertung der Patientenakten ist ganz im Sinne von Prof. von Dossow und Dr. Hulde, um daraus gesicherte Erkenntnisse zur Behandlung ihrer Patienten abzuleiten. Im Februar 2020 haben die Anästhesisten zum ersten Mal von
clinalytix, der KI-basierten Entscheidungsunterstützung von Dedalus HealthCare, gehört. „Wir beschäftigen uns generell stark mit Datenbankanalysen, weil wir auf Daten aus 20 Jahren elektronischer Dokumentation von Narkosen und Intensivtherapien in ORBIS zurückgreifen können“, sagt Dr. Hulde. Die neuronalen Netzwerke von clinalytix eröffnen nun neue Möglichkeiten – und zwar integriert in ORBIS. „Es geht uns im Besonderen um die Big-Data-Analysen von Anästhesie-Datensätzen aus allen Organsystemen, angereichert mit zusätzlichen anderen Befunden, die wir dann auch in ORBIS hinterlegt haben“, erläutert Prof. von Dossow. Initiator des Projektes mit Dedalus HealthCare war die IT-Abteilung des HDZ NRW. Die erste Fragestellung an clinalytix ist die nach dem Risiko für Patienten, postoperativ ein Delir zu entwickeln, also zeitweise geistig verwirrt zu sein. „Störungen der Wahrnehmung und des Denkens sind nach großen Eingriffen ein Warnsignal, da sie mit einer erhöhten Sterblichkeit einhergehen können. Damit hat das Delir für uns eine hohe klinische Bedeutung für die Patientenversorgung“, erläutert Prof. von Dossow den Grund für das Interesse an dieser Fragestellung. Das Ziel ist, die Patienten über Präventionsstrategien so verlässlich zu beurteilen, dass sie möglichst schonend und sicher durch den gesamten perioperativen Verlauf begleitet werden können. „Von clinalytix versprechen wir uns eine valide Einschätzung des patientenindividuellen Risikos bei einer Operation und der zugehörigen Narkoseführung“, so Dr. Hulde. Bislang haben die Ärzte auf den sogenannten Propensity Score gesetzt, also eine Analyse vergangener Therapien anhand verschiedener Parameter. Der Einsatz der Bioinformatik und neuronaler Netzwerke bietet jedoch einen ganz neuen Ansatz, um konkreten Fragestellungen nachzugehen.
Versorgung verbessern, Folgen reduzieren
Die Analysen sollen im ersten Schritt darin münden, unterschiedliche Patientengruppen zu klassifizieren. Gruppe 1 beispielsweise umfasst stabile, normale Patienten ohne erwartete Komplikationen. Gruppe 2 hingegen führt Patienten auf, bei denen während der OP unter Umständen Probleme auftauchen könnten. „Das können wir selbstverständlich auch heute bereits. Von einem KI-Modell wie
clinalytix erwarte ich mir jedoch, dass die Aussagen noch präziser und patientenindividueller für die Narkoseführung sind“, sagt Prof. von Dossow. Damit können sich die Anästhesisten dann besser auf den Patienten und auf die OP einstellen, was nicht zuletzt die Patientensicherheit erhöht. Und genau das ist für die Institutsdirektorin der zentrale Punkt: „Eine Narkose ist von Patient zu Patient unterschiedlich und muss individuell abgestimmt sein. Nur dann können wir eine schnelle Erholung gewährleisten, die wiederum zu einem kürzeren intensivstationären Aufenthalt führt.“ Ein anderer Aspekt sind die Langzeitfolgen einer Operation und damit die Lebensqualität. So gilt es zu vermeiden, dass Patienten pflegebedürftig in die häusliche Umgebung entlassen werden oder gar in eine Spezialeinrichtung überführt werden müssen. Einem postoperativen Delir folgt nicht selten ein kognitives Defizit, das sich zum Teil über Wochen oder Monate erstrecken kann. „Wenn wir das durch eine KI-gestützte Vorhersage reduzieren könnten, wäre das ein unheimlicher Gewinn“, ergänzt Dr. Hulde. Ein Delir ist nicht immer vermeidbar. Wird es allerdings rechtzeitig erkannt und behandelt, kann man die Dauer verkürzen – und das beginnt bereits bei der Narkoseführung. Eine weitere Erwartung der Anästhesisten im HDZ NRW ist es, auf Basis der gewonnenen Erkenntnisse Standard-Arbeitsanweisungen (SOP) zu entwickeln beziehungsweise bestehende zu überprüfen.
»Von clinalytix erwarte ich mir Aussagen für eine
patientenindividuelle und noch präzisere Narkoseführung.«
Prof. Dr. Vera von Dossow
Herz- und Diabeteszentrum NRW, Bad Oeynhausen
Individueller Fahrplan für die Anästhesie
Im HDZ NRW ist
clinalytix noch nicht im klinischen Einsatz. Die Künstliche Intelligenz wird gegenwärtig anhand großer Datensätze aus den letzten zehn Jahren trainiert. Gegen Ende des Jahres soll dieser Prozess beendet sein. Wie aber wird es dann im Institut für Anästhesiologie und Schmerztherapie eingesetzt? „Das System ist so konzipiert, dass es das DelirRisiko eines Patienten tagesaktuell anzeigt“, so Prof. von Dossow. „Darüber hinaus können wir all das im Nachhinein statistisch auswerten. Da geht es dann etwa um die Frage, wie das Risiko präoperativ war und was dazu geführt hat, dass das DelirRisiko angestiegen oder gesunken ist. So können wir Rückschlüsse für die Arbeitsanweisungen ziehen.“ Dr. Hulde erwartet sich konkret am Tag vor der OP für seine Patienten einen Fahrplan, der Risikofaktoren und mögliche Komplikationen individuell aufführt. Dazu gehören beispielsweise die Grenzen der Kreislaufparameter oder der gesamten physiologischen Körperparameter. „Daraus sollte dann im Rahmen einer Entscheidungsfindung automatisch etwa die Medikamentierung abgeleitet werden. Selbstverständlich würden wir nicht blind auf diese Vorschläge vertrauen, sondern sie im Zusammenhang überprüfen. Sie sollen aber sehr wohl als Anhaltspunkt dienen, um zu entscheiden, welche Parameter wir anstreben: wie die Herzfrequenz sein soll oder welche Blutdruckwerte eingehalten werden“, so der Oberarzt. Einen großen Vorteil sieht er besonders beim Einsatz der Herz-Lungen-Maschine, etwa um einen etwas höheren Mitteldruck des Blutdrucks anzustreben.
Die Reise geht weiter
Auch wenn das noch ein wenig Zukunftsmusik ist – die Zusammenarbeit mit
Dedalus HealthCare ist bereits sehr real. Die Kommunikation läuft vorwiegend über die IT-Abteilung, die ja intern – in enger Abstimmung mit der Anästhesie –auch die Federführung inne hat. „Wir kommunizieren direkt in unseren Teammeetings mit Dedalus HealthCare und haben dabei einen sehr positiven Eindruck gewonnen“, lobt Prof. von Dossow den Partner. „Wenn die Zusammenarbeit so weiterläuft, werden wir im nächsten Jahr ein sehr hilfreiches Werkzeug für unsere Arbeit haben.“ Das Vertrauen ist so groß, dass bereits weitere Projekte geplant sind. „Als Zentrum für Herzinsuffizienz sind wir zum Beispiel an einer Vorhersage interessiert, wie sich die Herzfunktion im Rahmen der Operationen verändert und ob wir den Patienten unter Umständen mit medikamentösen Maßnahmen präoperativ oder auch intraoperativ noch besser behandeln können“, erklärt Dr. Nikolai Hulde. Seine Institutsdirektorin setzt da sogar noch früher an: in der präoperativen Rehabilitation. „Ich wünsche mir, dass wir den Patienten bereits in seiner häuslichen Umgebung, bevor er also in die Klinik kommt, evaluieren. Wir könnten beispielsweise schauen, wie viel er sich bewegt und wie er sich generell verhält, wie seine Vitalparameter sind. Das wäre für unsere Arbeit eine wesentliche Hilfe, da wir den Patienten ja in der Regel erst am Tag vor der Operation sehen“, so Prof. Dr. Vera von Dossow
https://www.dedalusgroup.de/