Er ist einer der bekanntesten Ärzte der Schweiz, der hauptberuflich am Berner Inselspital tätige Herzchirurg Thierry Carrel. Nun hat der 59-Jährige in einem Interview mit der «NZZ am Sonntag» die aus seiner Sicht herrschenden Missstände im Spitalwesen benannt.
Man habe die Zulassung zum Medizinstudium in den vergangenen Jahren zu rigid gehandhabt. Zwar würden jetzt mehr Studierende ausgebildet - aber weil ein Ärztestudium sechs Jahre oder länger dauere, brauche es Zeit, bis diese neuen Ärztinnen und Ärzte zur Verfügung stünden. Deshalb seien Lücken die logische Folge. Von den jeweils 22 Assistentinnen und Assistenten an seiner Berner Herzklinik hätten im Schnitt nur 3 bis 5 in der Schweiz studiert. Der Rest komme beispielsweise aus Deutschland, Litauen, Bulgarien oder Spanien.
Frauenanteil steigt an
Carrel sagt, ihm liege die Frauenförderung am Herzen. Und er prognostiziert, dass die Zahl der leitenden Ärztinnen weiter steigen wird. Derzeit beträgt der Frauenanteil bei den leitenden Ärztinnen in der von ihm geleiteten Klinik 28 Prozent. Bei den Oberärztinnen sind es 43 Prozent - und bei den Assistenzärztinnen 70 bis 80 Prozent.
Carrel kritisiert, dass manche Spitäler bei Einstellung ausländischen Bewerbenden selbst dann den Vorzug gibt, wenn die in der Schweiz ausgebildeten Mitbewerber gleichwertige Qualifikationen hätten. Das könne für Letztere frustrierend sein.
Reduktion wäre sinnvoll
Carrel spricht im Interview auch das «Problem des Überangebots» in der Spitzenmedizin an. Aus seiner Sicht wäre eine Reduktion der Abteilungen in manchen Kantonen ein Vorteil. Zumal es fraglich sei, ob diese mit dem aktuellen Tarifsystem alle überlebensfähig sei. Aber politisch seien solche Schliessungen ein wohl «zu heisses Eisen», mutmasst er.
Auch in seiner Klinik am Inselspital spüre man den Kostendruck. So verrechne ihm das Inselspital für die Nutzung des Operationssaals pro Stunde 1500 Franken. Gleichwohl könne seine Klinik Geld verdienen.
Unnötige Eingriffe
Auf die Frage, weshalb die Kosten trotz dieses Kostendrucks im Gesamtsystem steigen, antwortet Carrel zum einen mit den immer älter werdenden Menschen, und neuen «innovativen aber auch sehr teuren Technologie». Zudem erwähnt er auch die Grauzone von Eingriffen, deren Indikation nicht «glasklar» sei. Sprich, dass Eingriffe durchgeführt werden, die nicht unbedingt nötig sind, um Einnahmen zu generieren.
Carrel ist auch Vorstandsmitglied der amerikanischen Gesellschaft für Herzchirurgie. Deshalb besuche er immer wieder renommierte Kliniken in Europa und den USA, sagt er der NZZaS. Die Schweiz stehe im Vergleich sehr gut da. Einzig in einigen hochspezialisierten Bereichen hätten manche der ausländischen Kliniken mehr Fälle und deshalb auch mehr Erfahrung als jene in der Schweiz. So sei dort die Spezialisierung bei gewissen hochspezialisierten Eingriffen grösser. Dass die Schweiz das nicht habe, erachtet er aber als nicht besonders gewichtig. Die Schweiz sei zudem nach wie vor für ihre Perfektion bekannt. Ebenso werde sie um die Sauberkeit in den Spitäler beneidet.