Vor knapp einem Jahr sagten Sie in einem Interview: «Ein Drittel aller Spitäler in der Schweiz ist überflüssig». Würden Sie das heute immer noch sagen?
Ja, sicher. Die Spitallandschaft hat sich in der Schweiz seither kaum verändert.
Seit einem Jahr hören wir, die Spitäler seien am Anschlag.
Die Corona-Pandemie ist eine Ausnahmesituation, die das gesamte Gesundheitswesen in die Mangel genommen hat. Man darf die Zukunft des Gesundheitswesens nicht auf einzelne Krisen ausrichten. Wir wissen ja zum Beispiel nicht, was uns die nächste Krise abverlangen wird.
Glaubt man der offiziellen Lesart, fehlte es vorab an Intensivbetten.
Am Anfang hatten wir vor allem Materialprobleme. Es fehlten unter anderem Ventilatoren und Beatmungsgeräte. Dann fehlte vor allem das Personal. So wurde der Operationsstopp verfügt, weil man zusätzliches Personal benötigte, um die Intensivbetten zu betreiben. Man kann aber die Menschen nicht beliebig umpolen; man kann sie auch nicht beliebig ersetzen.
Müsste man also mehr Leute ausbilden, die Beatmungsgeräte bedienen können?
Wir wissen nicht, ob es bei einer nächsten Krise wieder an Intensivpersonal mangelt, ob wir wieder respiratorische Probleme haben werden oder zum Beispiel gastrointestinale. Wir wissen es schlicht nicht.
Was hat uns die Pandemie gelehrt, ausser dass es mittlerweile effizientere Kommunikationsmittel gibt als das Faxgerät?
Ob es wirklich bessere Kommunikationsmittel gibt, möchte ich zuerst sehen. Das EPD (Elektronische Patientendossier) ist immer noch im Brutkasten und kommt nicht heraus. Was hat uns die Pandemie gelehrt? Eine gewisse Flexibilität. Man musste eingespielte Verhaltensweisen und Kooperationsweisen neu erfinden. Das hat zumindest in der ersten Welle gut geklappt. Wir müssen uns darauf einstellen, dass wir nicht wissen, was auf uns zukommt. Und falls uns wieder eine derartige Krise heimsucht, müssen wir flexibel darauf reagieren können.
Eigentlich gäbe es für Krisen- und Kriegszeiten um die 6000 Notfallbetten. Davon war nichts zu sehen.
Das hat mich auch erstaunt, dass wir von diesen geschützten Spitälern und geschützten Operationssälen nichts gesehen haben. Jeder Kanton muss eine bestimmte Anzahl geschützter Betten auf Vorrat halten. Das hat überhaupt nicht funktioniert. Keine einzige dieser Infrastrukturanlagen wurde benutzt. Sie sind total veraltet, zudem fehlte das Personal, um sie zu betreiben.
Wird Corona die Bereinigung der Spitallandschaft beschleunigen oder verlangsamen?
Es wird am Anfang wohl Widerstand geben. Man wird sagen, die Pandemie hätte gezeigt, dass wir Betten bräuchten. Aber letztendlich nützt das niemandem. Ein Grossteil der Spitäler wurde in der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts gebaut. Sie sind alle mehr oder weniger renovationsbedürftig. Wollte man sie alle erneuern, gäbe das einen Overkill. Akutspitäler brauchen wir nur noch bei schweren Operationen, bei denen der Patient über mehrere Tage hinweg 24 Stunden am Tag überwacht werden muss.
Viele Spitäler sind nicht nur überflüssig, sondern auch unrentabel. Die erforderliche Ebitda-Marge von 10 Prozent wurde schon vor der Pandemie kaum erreicht. Was heisst das für die Zukunft?
Es wird einfach noch schwieriger. Die Defizite sind vor allem durch die fehlenden Einnahmen entstanden, nicht durch die pandemiebedingten Mehrausgaben. 80 Prozent sind Fixkosten. Die grosse Herausforderung besteht darin, diese hohen Fixkosten zu flexibilisieren.
Wie soll das gehen?
Der grösste Teil sind Lohnkosten. Rein ökonomisch könnte man sagen, man flexibilisiert die Personalwirtschaft. Auf der anderen Seite haben wir einen Fachpersonalmangel. Das allein wird schon der Treiber sein, um den Strukturwandel zu beschleunigen, so dass wir unser Personal auf weniger Strukturen gezielter einsetzen können.
Das tönt wahrscheinlich einfacher als es ist.
Je weiter westlich man in der Schweiz steht, umso lockerer sitzt das Steuergeld. Das ist ein Fluch und ein Segen zugleich. Ein Segen, weil sich die öffentlichen Spitäler weniger Sorgen darüber machen müssen, wenn sie Defizite einfahren, weil das Spital in der Westschweiz als Service Public verstanden wird. Und ein Fluch natürlich auch, weil dadurch der Druck für mehr Effizienz und für den zwingend nötigen Umbau fehlt. Wie können das Gesundheitswesen, wie es heute funktioniert, in 20 Jahren nicht mehr tragen.
Annamaria Müller
präsidiert seit Anfang 2020 die Freiburger Spitäler HFR. Sie verfügt über eine breite Erfahrung im Gesundheitswesen mit Stationen bei der Gesundheitsdirektion des Kantons Zürich, bei der FMH und bei der Konferenz der Gesundheitsdirektoren (GDK). Bis Ende 2019 leitete die Bernerin während zehn Jahren das Spitalamt im Kanton Bern.
Sie waren stets eine starke Verfechterin von AVOS, ambulant vor stationär. Wird das bei ihnen in Fribourg konsequent umgesetzt?
Unsere Strategie geht in diese Richtung. Die Standorte in den peripheren Gebieten wollen wir in Gesundheitszentren umwandeln. In Zukunft brauchen wir in den Regionen vor allem Betten für die Nachsorge. Also für Personen, die aus medizinischen Gründen nicht mehr im Spital bleiben müssen, aber zu Hause nicht rehabilitiert und gepflegt werden können, weil ihnen das entsprechende Umfeld fehlt.
Operiert wird dann nur noch in Freiburg?
Ja, in Villars-sur-Glâne. Dort soll ein topmoderner Neubau entstehen. Womöglich mit weniger Betten als wir jetzt haben. Und dann wollen wir dafür sorgen, dass wir so viel Gesundheitsdienstleistungen wie möglich in der Peripherie, das heisst in der Nähe des Wohnorts ambulant erbringen können.
Sie sagten mal in einem Interview: Massgebend sei nicht der Standort des Spitals, sondern die Frage, ob die Ambulanz in einer Viertelstunde bei mir ist. Ambulanzfahrzeuge seien Minikliniken, ausgerüstet für die Erstversorgung.
Das stimmt.
Ist die Ambulanz in 15 Minuten in Plaffeien?
Ja. Von Tafers aus auf jeden Fall. Die Ambulanzstützpunkte werden ja nicht zentralisiert. Sie bleiben dezentralisiert, damit sie die Bevölkerung schnell erreichen. Wobei dann nicht sicher ist, ob sie überhaupt nach Fribourg fahren. Vielleicht fahren sie nach Bern oder Lausanne – je nach der Schwere des Problems.
Im Spital Tafers soll die 24-Stunden-Notfallaufnahme ab April wieder in Betrieb genommen werden. Auf politischen Druck oder medizinischer Notwendigkeit?
Über die medizinische Notwendigkeit lässt sich streiten, aber wir haben uns gesagt, dass es gesundheitspolitisch wichtig sei, in seiner Sprache kommunizieren zu können. Insbesondere wenn man sich in einer Stresssituation befindet. Aber klar: Bei einem Beinbruch wird einem in Tafers nicht geholfen.
Ist die Wiedereröffnung der 24-Stunden-Notfallaufnahme nur vorübergehend?
Gemäss der Strategie 2030 sind für alle Aussenstandorten nur noch eine Permanance vorgesehen, wie wir sie in Meyriez-Murten betreiben. Das heisst, kein 24-Stunden-Betrieb und auch an Wochenenden nur einen eingeschränkten Betrieb. In Tafers haben wir eine Anlaufstelle rund um die Uhr, und in Riaz möchten wir die Operationssäle weiterbetreiben – aber nur ambulant, nicht stationär.
Ein Komitee sammelt derzeit Unterschriften für eine 24-Stunden-Notfallversorgung und für eine Akutversorgung in allen Regionen des Kantons. Das entspricht nicht Ihrer Strategie.
Das würde ich so nicht sagen. Falls der Verfassungsauftrag angenommen wird, ist es Sache des Kantons, die Umsetzung sicherzustellen. Er muss dann definieren, wie die Leute im ganzen Kantonsgebiet Zugang zu Notfalldienstleistungen und zur Akutversorgung haben werden. Achtung: Im Text steht nichts von einer stationären Versorgung, sondern nur von Akutversorgung. Das ist interpretationsbedürftig.
Das wollte ich gerade fragen: Was heisst Notfallversorgung?
Das ist nicht abschliessend definiert. Das müsste im Nachgang zur Annahme dieser Verfassungsinitiative ausgedeutscht oder ausgefranzösischt werden. Reicht es, wenn ich eine Ambulanz habe? Oder was genau ist eine Notfallversorgung? On verra.
Zurück zu den defizitären Spitälern. Wir wissen, dass die Zusatzversicherten die Grundversicherungen quersubventionieren. Das kann aber auf die Dauer auch nicht immer so weitergehen.
Da kommt noch eine Flutwelle auf uns zu. Etwa so, wie wenn sich in den Bergen im Gebüsch Geröll anstaut und dann ein Gewitter kommt. Das Gewitter bahnt sich an zwei Fronten an. Zum einen bei den Tarifen. Finanzmarktaufsicht und Preisüberwacher machen Druck auf die Tarife, weil sie sagen, den Tarifen stünde keine Mehrleistung gegenüber. Auf der anderen Seite ist der Anteil der Zusatzversicherten massiv gesunken. Er hat sich zwar bei rund 30 Prozent stabilisiert. Doch die Zusatzversicherten sterben langsam aus. Und die Jungen schliessen keine teuren Zusatzversicherungen ab. Die Krankenkassen haben es bisher nicht geschafft, echte Alternativen zu ihren Spitalversicherungen zu entwickeln. Das ist ein Super-Gau, sowohl für die Krankenkassen, wie für die Spitäler und die Belegärzte.
Müssten demnach für die Grundversicherten die Fallpauschalen angepasst werden?
Unbedingt. Die Basisrate müsste mindestens 10'000 Franken betragen, um die Kosten zu decken. Das verteuert die OKP (Obligatorische Krankenpflegeversicherung). Unser Gesundheitssystem ist auf Menge und Leistung ausgerichtet. Man kriegt bezahlt, wenn man etwas macht. Man kriegt nichts bezahlt, wenn man nichts macht. Deshalb plädiere ich dafür, von der Leistungsfinanzierung wegzukommen und durch einen Versorgungsauftrag zu ersetzen. Man erteilt einem Kollektiv einen Versorgungsauftrag, das die Bevölkerung dann so gesund wie möglich halten muss. Wenn ein Gesundheitsschaden auftritt, muss es diesen nach bestem Wissen und Gewissen beheben. Es ist so etwas wie das Suva-Prinzip.