Das Leben der alleinerziehenden Mama Désirée dreht sich rund um die Uhr um ihre schwer kranke Tochter Noemi. Die 5-jährige ist von der seltenen Krankheit Neurofibromatose Typ 1 betroffen und hat als Folge davon inoperable Hirntumore zwischen Seenerv und Stammhirn. Die Angst um ihre kleine Tochter, das schlechte Gewissen gegenüber Noemis grosser Schwester Kira, bürokratische und finanzielle Herausforderungen und nicht zuletzt ihre eigene Gesundheit, bringen die 30-Jährige immer wieder an den Anschlag.
Betroffene Mama am Ende mit den Kräften
«Seit fünf Jahren bin ich wie in einem Hamsterrad gefangen, schlafe keine Nacht durch und bin ständig am Rotieren. Mein Leben dreht sich um Untersuchungen, Spitalaufenthalte, schlechte Nachrichten hinsichtlich Noemis Gesundheit, Therapien und permanenter Angst. Gleichzeitig möchte ich meinen Töchtern eine starke Mama sein und ihnen eine schöne Kindheit bieten», sagt Désirée.
Dass auch die stärkste Mama dieser immensen Belastung irgendwann nicht mehr standhalten kann, ist logisch. Schon mehrfach war Désirée am Anschlag, wusste nicht mehr weiter und stand kurz vor dem Zusammenbruch. So auch im Juli 2021. «Ich selbst war gesundheitlich angeschlagen, musste mich einer Bauchoperation unterziehen und war dadurch geschwächt. Zuhause hätte ich wieder funktionieren sollen – das war unmöglich, ich fühlte mich mit meinen Kräften am Ende», erzählt sie.
Dass Désirée Erholung und Ruhe bitter benötigte, stand ausser Frage. Nur, wo würde sie diese bekommen? Von den Ärzten wurde ihr eine Auszeit in einer psychosomatischen Klinik vorgeschlagen, ohne Kinder. «Das war für mich keine Option. Ebenso wenig wie ein erneuter Aufenthalt in der Davoser Höhenklinik. Dieser brachte für uns damals wenig Erholung», erinnert sich Désirée.
Schnelle Hilfe in der Not
Die Reha-Möglichkeiten für Familien sind damit in der Schweiz bereits ausgeschöpft und Désirée wandte sich an Manuela Stier, Initiantin und Geschäftsleiterin des Fördervereins für Kinder mit seltenen Krankheiten. Und diese musste nicht zweimal überlegen: «Mit der Nachsorgeklinik Tannheim im Schwarzwald haben Familien aus unserem KMSK-Netzwerk bereits sehr gute Erfahrungen gemacht. Einziger Knackpunkt: Die Kosten dafür werden von der IV nicht übernommen und müssen privat getragen werden.» Manuela Stier wandte sich nun in einem ersten Schritt an die Verantwortlichen von Tannheim, schilderte Désirées Situation und staunte nicht schlecht, als ihr umgehend und innert kürzester Zeit Anfangs August ein freier Platz für eine vierwöchige Familienreha angeboten wurde. «Die Klinikleitung war extrem verständnisvoll und bemüht, für Désirées Notsituation eine Lösung zu finden. Obschon die Rehaplätze normalerweise auf Monate ausgebucht sind, konnten sie einen schnellen Aufenthalt ermöglichen», so Manuela Stier. Nachdem der Rehaplatz nun gesichert war, stand die grosse Frage nach der Finanzierung im Raum. Ein erneutes Nachfragen bei der IV blieb erfolglos, weshalb der Förderverein für Kinder mit seltenen Krankheiten in Rücksprache mit einem grosszügigen Gönner beschloss, die Kosten zu übernehmen. «Unser Ziel ist es in der Not zu helfen. Und das war eine absolute Notsituation!», betont die Initiantin. Kommt hinzu, dass ein vierwöchiger Aufenthalt in Tannheim mit CHF 14‘000 deutlich günstiger ist als eine ebenso lange Auszeit in Davos (rund CHF 32‘000).
«Wir konnten auftanken und Kraft schöpfen»
Für Désirée und ihre Mädchen waren die vier Wochen in Tannheim «wie auf einer Insel», ohne Stress mit sehr viel Ruhe und optimaler Betreuung. «Die Erholung beginnt bereits mit dem Ankommen. Die Umgebung ist so wunderschön, eingebettet zwischen Feldern, Wiesen und dem Schwarzwald. Hinzu kommt das grosszügige und attraktiv gestaltete Rehagelände», so Désirée. Damit sich eine Rehagemeinschaft zwischen den verschiedenen Gruppen bilden kann, starten jeweils alle Neuankömmlinge gemeinsam in ihre Rehazeit. Dazu Désirée: «Wir haben uns sofort wohl gefühlt, es war ein grosses Miteinander und es entstanden Freundschaften». Während Noemi jeweils fix in ihrer Kinderguppe den Tag verbrachte und von ihren Betreuerinnen in die verschiedenen Therapien gebracht wurde, besuchte die 8-jährige Kira vor ihrer Kindergruppe den Schulunterricht und durfte aus einem breiten Angebot an Freizeitaktivitäten wählen. «Am meisten Spass gemacht hat mir der Reitunterricht», erzählt Kira und fügt an: «Ich habe einen richtig guten Freund gefunden. Er wohnt in München und ich werde ihn besuchen.»
Zeit für eigene Bedürfnisse
Und auch Désirée kam voll auf ihre Kosten – dadurch, dass die Mädchen den ganzen Tag betreut wurden, konnte sie Verantwortung abgeben, hatte Zeit für sich und konnte sich, zum ersten Mal seit Noemis Geburt, wieder um eigene Bedürfnisse kümmern. «Es hat so gutgetan, endlich wieder Zeit für mich zu haben. Nebst psychologischen Therapien habe ich mich künstlerisch betätigt und war reiten», erzählt Désirée. Das Beschäftigungs- und Therapieangebot in Tannheim ist riesig und hat für jeden etwas zu bieten. «Die vier Wochen waren zu kurz, um das ganze Angebot zu nutzen», lacht sie. Liebend gerne hätte sie daher ihren Aufenthalt verlängert, die «Schutzglocke Tannheim» zu verlassen fiel ihr schwer. Rückblickend sagt sie jedoch: «Ich konnte nachhaltig Kraft tanken, ich fühle mich stärker und habe auch Strategien gelernt, die ich nun im Alltag anwenden kann. Tannheim war mein Rettungsanker und hat mich vor einem folgenschweren Zusammenbruch bewahrt!»
Insel im Meer der Sorgen
Petra Bast ist Sozialpädagogin in der Nachsorgeklinik Tannheim und hat Désirée während ihrem Aufenthalt psychologisch begleitet.
Der Leitspruch von Tannheim lautet: «Der Patient heisst Familie». Wie wird dieser im Klinikalltag konkret umgesetzt?
Eine chronische Erkrankung des Kindes hat immer Auswirkungen auf das gesamte Familiensystem, auf die Eltern, Geschwister, aber auch auf das gesamte soziale Umfeld. Wir behandeln deshalb nicht nur die Patientenkinder, sondern auch deren Eltern und Geschwister. Sie alle erhalten ein umfangreiches therapeutisches Angebot. Dazu gehört etwa, dass jedes Familienmitglied gleich zu Beginn des Aufenthaltes einen auf die individuellen Bedürfnisse abgestimmten Therapieplan bekommt.
Wie erleben Sie betroffene Familien bei ihrer Ankunft?
Familien, die nach Tannheim kommen, haben Belastendes erlebt. Sie sind konfrontiert mit der lebensbedrohlichen Krankheit ihrer Kinder, mit Angst, Ohnmacht und Hilflosigkeit, Sterben und dem Tod. Viele betroffene Eltern funktionieren einfach, wachsen über sich hinaus und leisten unglaubliches im Alltag. Diese Anstrengung fordert ihren Tribut und früher oder später sind die Akkus leer. In dieser Situation bedeutet ein Nachsorgeaufenthalt in Tannheim für die gesamte Familie die lang ersehnte Rückkehr zur Normalität. Sie kommen zur Ruhe, haben Zeit für sich und die Geschwisterkinder und finden sich als Familie neu.
An wen richtet sich ihr Angebot?
Unser vierwöchiges Angebot richtet sich primär an Kinder mit Krebs-, Herz- oder Mukosviszidose-Erkrankungen sowie deren Familien. Jugendlichen Patientinnen und Patienten steht die „Junge Reha“ zur Verfügung, Erwachsenen ermöglichen wir die Nachsorge im Rahmen der REHA27PLUS. Weiter gibt es eine spezielle Reha für „Verwaiste Familien“. Unser übergeordnetes Ziel ist es immer, diesen schwer geprüften Familien eine „Insel im Meer der Sorgen“ zu sein.
Désirée hat sehr schnell einen Rehaplatz in Tannheim bekommen. Ist dieses schnelle Handeln die Regel?
Jein. Wir haben aktuell, ausgelöste durch die Pandemie, einen grossen Rückstau und die Wartezeit ist entsprechend lang. Allerding kommt es immer wieder vor, dass betroffene Familien kurzfristig absagen müssen. Wir schauen dann, dass wir jene mit einem dringenden Bedarf, wie Désirée, vorziehen können.
In der Schweiz existiert kein solches Modell einer Familienorientierten Rehabilitation.
Inwieweit wird das Angebot in Tannheim bereits von Schweizer Familien genutzt?
Wir betreuen jährlich im Schnitt eine Schweizer Familie. In der Schweiz herrscht ein ganz anderes Sozialsystem als bei uns und die Kosten werden nicht von der IV getragen. Somit bezahlen diese Familien den Aufenthalt entweder privat oder er wird durch eine Stiftung übernommen.
Sie bezeichnen Tannheim als eine Art Schutzglocke, unter der die leidgeprüften Familien auftanken und neue Energie schöpfen können. Wie werden die Eltern auf den belastenden Alltag zu Hause vorbereitet?
Unser Ziel ist es, die Familie auf das Leben nach oder mit der Krankheit einzustellen. Wir bereiten deshalb die Familien individuell auf ihren Alltag vor und geben ihnen «Werkzeuge» im Umgang mit belastenden Situationen zur Hand. Ebenso helfen wir auch mit Adressen für weiterführende therapeutische Angebote weiter, da wo diese indiziert sind. Vereinzelt halten wir Kontakt, etwa wenn es einen besonderen Hilfebedarf gibt.
Förderverein für kinder mit seltenen krankheiten
Der Alltag unserer Familien ist geprägt von Ungewissheit, insbesondere wenn noch keine Diagnose vorhanden ist. Der Förderverein für Kinder mit seltenen Krankheiten setzt sich für betroffene Kinder und ihre Familien ein. Wir ermöglichen finanzielle Direkthilfe (2021 rund CHF 350 000.- ausbezahlt), schaffen kostenlose Familien-Events (seit 2014 mehr als 7000 Familienmitglieder als Teilnehmer), um betroffene Familien miteinander zu vernetzen und verankern das Thema seltene Krankheiten bei Fachpersonen und in der breiten Öffentlichkeit. Um dies auch zukünftig zu ermöglichen, sind wir auf Ihre Spenden, Legate und Gönnerbeiträge angewiesen.