Bis eine seltene Krankheit diagnostiziert wird, dauert es im Schnitt fünf Jahre. Was bedeutet eine solche diagnostische Odyssee für die Betroffenen?
Die Betroffenen leiden an Symptomen, werden von einem Arzt zum nächsten geschickt und niemand kann ihnen sagen, was los ist. Diese Ungewissheit ist sehr schwer zu ertragen, viele Patienten fühlen sich nicht ernst genommen, sind frustriert und zweifeln an sich. Wenn eine seltene Krankheit dann diagnostiziert wird, ist die Erleichterung oft gross. Auch wenn es nur für rund fünf Prozent der seltenen Krankheit eine wirksame Therapie gibt, so haben sie dennoch einen Namen für ihr Leiden.
75 Prozent der Betroffenen sind Kinder – weshalb ist eine frühzeitige Diagnose bei ihnen besonders anspruchsvoll, zugleich aber auch besonders wichtig?
Häufig haben die Mütter eine unauffällige Schwangerschaft hinter sich und das Kind ist scheinbar kerngesund. Mit der Zeit zeigen sich dann Auffälligkeiten und unspezifische Symptome; oftmals spürt die Mutter, dass etwas nicht in Ordnung ist. Für den Kinderarzt ist aber die Bandbreite von «normal» gross und es wird zunächst abgewartet. Später werden die Kinder von einem Spezialisten zum nächsten überwiesen, oft vergehen Monate, manchmal Jahre oder gar Jahrzehnte bis eine Diagnose gestellt wird. Dadurch kann der Behandlungszeitpunkt verpasst werden, und etwa eine neurologische Schädigung voranschreiten.
Mit dem Neugeborenen Screening wurde vor über 50 Jahren ein Meilenstein in der frühzeitigen Diagnose von seltenen Krankheiten gelegt. Was hat sich hier seither getan?
Aktuell können zehn Krankheiten mit dem Neugeborenen Screening diagnostiziert werden. Dafür gelten strenge Kriterien – so muss es etwa eine Behandlung geben, die den Verlauf relevant positiv verändert. Das Screening wird zwar erweitert, in der Schweiz ist das aber ein sehr langsamer Prozess. Man möchte verhindern, dass Krankheiten ins Screening aufgenommen werden, die keine guten Therapieoptionen haben oder die niemals Beschwerden verursachen würden. Das Recht auf Nichtwissen ist dabei ein wichtiger Aspekt.
Andere Länder durchforsten routinemässig das ganze Genom des Neugeborenen. Ist so eine Entwicklung in der Schweiz auch denkbar?
Das «whole-genome sequencing» wird im Rahmen von Pilotstudien in zahlreichen Ländern getestet. Gesellschaftlich ziehen solche Entwicklungen ethische Fragestellungen nach sich. Es geht um viel mehr als um das Medizinische. Wie erwähnt, bleibt eine der grössten Fragen, was man wissen möchte und was nicht. Die Schweiz hat keine optimalen Prozesse, um sich mit solch grossen Fragestellungen auseinanderzusetzen.
«Die Kantone wurden mit der Umsetzung und Finanzierung der Zentren für Seltene Krankheiten alleine gelassen.»
Wie nehmen Sie die Rolle des Bundes wahr; wird genug für seltene Krankheiten getan?
Der Bundesrat hat mit dem nationalen Konzept seltene Krankheiten (2014) und dem Massnahmenplan (2015) sehr viel angestossen, das in die richtige Richtung geht. Aber er hat kaum finanzielle Mittel zur Verfügung gestellt. Die Kantone wurden mit der Umsetzung und Finanzierung der Zentren für Seltene Krankheiten alleine gelassen.
Wie meinen Sie das?
Die Anerkennung erster Referenzzentren und -Netzwerke läuft. Allerdings ist der Zusatzaufwand für das Personal gross und wird nicht vergütet. Für die Spitäler bedeutet das ein massiver zusätzlicher Druck. Auch die kosek - Nationale Koordination Seltene Krankheiten wird übrigens nicht vom Bund, sondern hauptsächlich von den Spitälern finanziert.
Kommt hinzu, dass viele Patienten mit seltenen Krankheiten durch die Maschen des Tarmed fallen.
Deshalb müssen die Leistungen für Patienten mit seltenen Krankheiten unbedingt besser vergütet werden. Die meisten dieser Patienten werden ambulant betreut und sind auf eine hochspezialisierte Fallführung an einem Referenzzentrum angewiesen. Eine solche Fallführung ist jedoch in keinster Weise kostendeckend, weil die ambulante Medizin über Tarmed an den Spitälern generell nicht kostendeckend abgebildet ist. Es bräuchte ein Spezialentgeld für das Case Management solcher Patienten.
Besonders tragisch sind jene Fälle, wo es zwar ein Medikament gibt, jedoch die Kostengutsprache fehlt und wir ein Kind deshalb nicht behandeln können.
Arzneimittel für Menschen mit seltenen Krankheiten sind oft nicht von Swissmedic genehmigt oder auf der Spezialitätenliste aufgeführt. Was bedeutet das für Sie als Arzt?
Ich bin seit über zwanzig Jahren als Stoffwechselspezialist tätig und es ist administrativ ein ständiger Kampf, der viel Zeit und Nerven in Anspruch nimmt. Es gibt bei seltenen Krankheiten keinen Standard und entsprechend müssen Kostengutsprachen individuell und wegen Ablehnung oft x-fach verfasst werden. Besonders tragisch sind jene Fälle, wo es zwar ein Medikament gibt, jedoch die Kostengutsprache fehlt und wir ein Kind deshalb nicht behandeln können. Das den betroffenen Eltern zu erklären, ist keine schöne Aufgabe.
Zur Erforschung von seltenen Krankheiten braucht es eine länderübergreifende Zusammenarbeit. Wie stark ist die Schweiz hier eingebunden?
Leider ist die Situation so, dass die Schweiz an den europäischen Referenznetzwerken als Non-EU-Member nicht oder nur begrenzt teilnehmen kann. Für Horizongelder beziehungsweise -projekte darf sich die Schweiz bewerben und wird, bei erfolgreicher Kandidatur, vom Nationalfonds finanziert. Die ganze Situation ist für uns nicht sehr befriedigend; insbesondere bei seltenen Krankheiten wäre der internationale Austausch zentral. Die Schweiz ist daher auch nur in Teilgebieten in der Spitzenforschung dabei.
- Bislang wurden weltweit zwischen 6'000 und 8'000 seltene Krankheiten beschrieben; die meisten von ihnen sind kaum erforscht.
- In der Schweiz und in Europa gilt eine Krankheit als selten, wenn sie höchstens fünf von 10'000 Personen betrifft.
- Die Zahl der von einer einzelnen Krankheit betroffenen Menschen ist zwar tief, da es aber 7'000 bis 8'000 solcher Krankheiten gibt, dürften rund sieben Prozent der Bevölkerung betroffen sein.
- In unserem Land wird die Zahl der Patienten auf mehr als eine halbe Million Personen geschätzt. Diese Zahl übersteigt jene der Menschen mit Diabetes bei weitem.
Quelle: BAG
Das Interview erschien erstmals im Feburar 2023 anlässlich des internationalen Tages der seltenen Krankheiten