Herr Nuoffer, über 8000 seltene Krankheiten sind beschrieben. Trotzdem kann die Allgemeinheit mit dem Begriff «seltene Krankheiten» kaum etwas anfangen. In letzter Zeit taucht er wieder in den Medien auf: Am Donnerstag, 7. April, hat Manuela Stier, Gründerin des Fördervereins für Kinder mit seltenen Krankheiten, einen Viktor Award gewonnen. Hat sich der Begriff inzwischen etwas etabliert?
Medizinisch ist der Begriff definiert. Eine Krankheit ist selten, wenn sie weniger als 1/2000 Menschen betrifft. Menschen, die nicht von einer seltenen Krankheit betroffen sind, können meist nicht viel damit anfangen, das ist richtig. Oft ist es jedoch auch so, dass auch betroffene Patienten und betreuende Ärzte keine oder nur wenig Kenntnisse darüber haben, was ein seltene Krankheit genau bedeutet.
Mit welchen Folgen?
Patienten mit Diagnose empfinden häufig, dass sie alleine dastehen, weil ihr Hausarzt die Krankheit nicht kennt. Patienten, mit Diagnose, sind jedoch häufig sehr gut organisiert und informiert. Es gibt sehr aktive Patientenorganisationen, welche die Patienten unterstützen und auch politischen Druck machen. So ist das nationale Konzept für seltene Krankheiten (siehe Text unten) überhaupt entstanden. Patienten ohne Diagnose, die von einer seltenen Krankheit betroffen sind, die noch nicht erkannt ist, erleben oft diagnostische Irrwege und fühlen sich unverstanden.
Wie kann man sich diese diagnostischen Irrwege vorstellen?
Es handelt sich oft um jahrelange Odysseen, bis die Patienten eine Diagnose erhalten. Sei es bei Erwachsenen oder bei Kindern: Die Krankheit manifestiert sich häufig sehr unspezifisch. Oft kennt der Hausarzt die Krankheiten nicht und auch die diagnostischen Pfade sind häufig nicht bekannt, sprich die zuständigen Spezialisten oder die mögliche Labor-Diagnostik.
Die meisten seltenen Krankheiten sind genetisch. Seit 2010 können mit der Hochdurchsatz-Sequenzierungstechnik die Bausteine vieler hunderter Gene parallel sequenziert werden. Was bedeutet diese Möglichkeit für die Diagnose von seltenen Krankheiten?
Rund 75 Prozent oder mehr der seltenen Krankheiten haben einen genetischen Hintergrund. Dank der Hochdurchsatz-Sequenzierungstechnik kann man heute schneller das ganze Erbgut nach Defekten untersuchen. So kann heute in wenigen Wochen das kodierende Genom (Exom), untersucht werden. Trotzdem kann man nicht immer alle Gendefekte diagnostizieren.
Neulich ist eine Studie im «Orphanet Journal of Rare Diseases» betreffend die medizinische Versorgung von Menschen mit seltenen Krankheiten erschienen. Wer in der Nähe eines Zentralspitals wohne, habe die grösseren Chancen, dass eine seltene Krankheit entdeckt werde. Was sagen Sie dazu?
Dieses Studien-Ergebnis ist ein Stück weit nachvollziehbar. Der Hausarzt in der Peripherie ist ganz zentral: Er muss zwar keine Diagnose stellen. Doch er sollte merken, dass es sich um eine Krankheit handelt, die weiter abgeklärt werden muss und den Patienten dann einem entsprechenden Zentrum zuweisen. In den grossen Städten mit den Zentrumsspitälern geschieht dies schneller als in der Peripherie. Sowohl der Patient als auch der Arzt brauchen eventuell mehr Überwindung, den Schritt in ein städtisches Zentrum zu machen.
Gefolgt von weiteren Hürden …
Die erste Hürde ist, an seltene Krankheiten zu denken! Das Häufige wird zuerst ausgeschlossen, nur nach langen diagnostischen Irrwegen denkt man allenfalls an das Seltene. Aber dann stellt sich die Frage: Wie finde ich den Spezialisten? Hier ist das nationale Konzept sehr wichtig: Eines der Ziele ist die Sensibilisierung für seltenen Krankheiten, ein anderes Ziel die bessere Visualisierung der Zentren, welche für Patient und Arzt einfacher zu finden sein sollten. Leider ist es aber nach wie vor so, dass man trotz der besseren diagnostischen Methoden die seltenen Krankheiten lange nicht erkennt, oder den genetischen Defekt, beziehungsweise die Ursache, nicht herausfindet.
Viele der seltenen Krankheiten sind unheilbar. Führen sie auch meist zum Tod?
Sie müssen nicht immer unbedingt zum Tod führen. Seltene Krankheiten sind häufig chronisch-progredient, sprich die Ausprägung der Symptome nimmt über die Jahre hinweg zu. Es gibt aber auch seltene Krankheiten, die im Neugeborenenscreenig entdeckt werden. Das Neugeborenenscreening ist eine Reihenuntersuchung von Neugeborenen, um vor allem seltene behandelbare Krankheiten frühzeitig zu erkennen. Somit können Erkrankungen, die noch nicht klinisch sichtbar sind, frühzeitig diagnostiziert und effektiv behandelt werden.
Medinside berichtete neulich über den Erfolg mit Lumasiran bei der seltenen Stoffwechselkrankheit Primäre Hyperoxalurie Typ 1. Gibt es eigentlich genügend Medikamente auf dem Markt, um seltene Krankheiten zu behandeln?
Es hat sich viel getan in den letzten Jahren. Die Zulassungen für Medikamente bei seltenen Krankheiten, die sogenannten Orphan-Drugs, nehmen zu. Leider gibt es bei den über 8000 seltenen Krankheiten nur für fünf bis sieben Prozent eine Therapie. Aufgrund der Seltenheit der Krankheiten und der Patienten, die überhaupt bei Studien mitmachen können, erhalten Orphan-Drugs erleichterte Zulassungsbedingungen. In der Schweiz gibt es die Möglichkeit, Medikamente, die in der EU zugelassen sind, über spezielle Anträge zu beschaffen.
Wenn der Markt für die Therapien nicht gross ist, müssen sie sehr aufwändig und teuer sein?
Das ist das, was man sehr oft hört und mag für einige Therapien auch stimmen. Dem ist aber nicht immer so. Manchmal gibt es auch ganz einfache Therapien, die nicht viel kosten.
Was geschieht mit Patienten, die eine seltene Krankheit haben, die noch nicht anerkannt ist? Oftmals gibt es keine anerkannte Therapien und auch diese beschränken sich meistens auf die Bekämpfung der Symptome. Wer übernimmt die Finanzierung?
In der Kindheit ist es die IV wenn die Krankheit auf der Geburtsgebrechen-Liste gelistet ist. Derzeit wird diese Liste im Rahmen des nationalen Konzepts überarbeitet. Bei den Erwachsenen werden die Leistungen von der Krankenkasse übernommen. Dort gibt es durchaus Probleme, weil die Krankenkasse und IV nicht die gleichen Leistungen übernehmen.
Sie sprachen vorher von einer Willkür was die Leistungen betrifft. Wir sind wieder beim Thema …
Teilweise haben Patienten im Kindesalter eine Besserstellung bei der IV. Deshalb wird es manchmal beim Übergang in die Krankenkasse problematisch. Eigentlich müssten die Leistungen, die im Kindesalter von der IV übernommen werden, auch beim Übergang ins Erwachsenenalter von der Krankenkasse bezahlt werden. Wenn eine Diagnose eines Geburtsgebrechens erst im Erwachsenenalter gestellt wird, was bei milderen Verlaufsformen durchaus möglich ist, haben wir manchmal Probleme mit der Kostenübernahme der Therapie.
Welchen Effekt hat der Bericht des Bundesrates auf die Kostenübernahme?
Den Effekt kann ich nicht abschätzen. Wir befürchten, dass die IV-Leistungen den sogenannten WZW-Kriterien der Krankenkassen (wirksam, zweckmässig und wirtschaftlich) angepasst werden. Da dies bei seltenen Krankheiten schwieriger zu objektivieren ist.
Sie beschäftigen sich schon viele Jahre mit seltenen Krankheiten. Was wünschen Sie sich für Ihre Patienten?
Auf der Patientenebene wünsche ich mir, dass sie ernster genommen werden und dass diese jahrelangen Odysseen verkürzt werden können. Zudem wünsche ich mir, dass sie einen vereinfachten Zugang zu Referenz-Zentren und zu Spezialsprechstunden erhalten. Wichtig ist jedoch auch, dass das Bewusstsein der Kostenträger dahin geschärft werden kann, dass Diagnosen gestellt werden sollten, auch wenn es noch keine Therapie gibt. Die Patienten müssen adäquat betreut werden auch ohne aktuelle spezifische Therapiemöglichkeit!
Und für die Zentren der Spitäler?
Alle Zentren gehören einem Spital an und sind enorm unter Kostendruck. Weil es rund um die Patienten sehr viel Administrationsarbeit gibt, die nicht abgerechnet werden kann, und zudem viel Zeit in Leistungen in Abwesenheit der Patienten erfolgen, sind diese Einheiten defizitär. Die Spitaldirektoren zeigen hohes Kommittent: Allerdings sollte man das Tarifsystem dahingehend anpassen, dass erbrachte Leistungen auch verrechnet werden können.
Sind die Ärzte und Zuweiser genügend sensibilisiert?
Jein, es ist besser aber es braucht weitere Sensibilisierungs-Arbeit auf der Arzt- oder Zuweiser-Ebene: Die Zentren und Informationsplattformen sollten einfach auffindbar sein.
Das Nationale Konzept
2014 beschloss der Bundesrat das Nationale Konzept Seltene Krankheiten. Dieses soll die Situation für Patienten mit einer seltenen Krankheit verbessern. Mit diesen Massnahmen will das Konzept folgende Ziele erreichen:
- Einen Zugang zur Diagnose und ihrer Vergütung
- Einen Zugang zu Therapien und ihrer Vergütung
- Eine Unterstützung der Patientinnen und Patienten und ihrer Ressourcen
- Eine Beteiligung der Schweiz an der (internationalen) Forschung
- Eine sozioprofessionelle und administrative Unterstützung
- Eine klinische Dokumentation und Ausbildung
- Eine Sicherstellung der Nachhaltigkeit des Konzepts Seltene Krankheiten
Die Koordination der Umsetzung liegt beim Bundesamt für Gesundheit.
Das sind die Aufgaben von «Kosek»
Die Nationale Koordination Seltene Krankheiten «Kosek» widmet sich dem Ziel 1 des Nationalen Konzepts und dabei spezifisch bei der Umsetzung der Massnahme der Schaffung und Anerkennung von Zentren für Seltene Krankheiten. Seit Juni 2021 gibt es in der Schweiz neun von der «Kosek» anerkannte. Damit hat die «Kosek» einen ersten Teil des Bundeskonzepts Seltene Krankheiten umgesetzt, das 2014 beschlossen wurde. Das Ziel der Zentren in Aarau, Basel, Bern, Tessin, Genf, Lausanne, Luzern, St. Gallen und Zürich ist, die Situation für Patienten mit einer seltenen Krankheit zu verbessern.
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