Senevita-Chef: «Der Pflegeberuf ist sehr anstrengend»

Seit Anfang Jahr ist Christoph Gassner CEO von Senevita. Im Interview erklärt der 43-Jährige, weshalb ihm der Frauenstreik vom 14. Juni kein Bauchweh macht; der Fachkräftemangel schon eher.

, 11. Juni 2019 um 06:45
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Herr Gassner, können die 26 Senevita-Heime am Freitag, dem 14. Juni, ihren Betrieb ordnungsgemäss aufrechterhalten?

Sie meinen wegen dem Frauenstreiktag? Ich habe in den letzten Tagen und Wochen mit vielen unseren Mitarbeitenden gesprochen und keine Signale erhalten, dass sie am Freitag frei nehmen wollen. Wir müssen für unsere Bewohner immer da sein. Daher appelliere ich an Mitarbeitende, die am Streik teilnehmen wollen, dass sie das frühzeitig mit ihren Vorgesetzten absprechen.

Über was haben Sie konkret mit Ihren Mitarbeitenden gesprochen?

Ich will im ersten Jahr als CEO mit so vielen Mitarbeitenden wie möglich sprechen und ihnen zuhören. Die Themen Frauenstreik oder Lohngleichheit zwischen Frau und Mann kamen dabei nur am Rande vor.

Immerhin am Rande kam das Thema Lohngleichheit vor.

Es ist völlig klar, dass Frauen bei uns gleich gut entlöhnt werden wie Männer. Wir könnten uns eine schlechtere Bezahlung gar nicht erlauben. Wenn eine Pflegefachkraft mit dem Lohn oder mit den Arbeitsbedingungen nicht zufrieden wäre, könnte sie kündigen und sofort eine neue Anstellung finden. Der Arbeitsmarkt ist in unserer Branche total ausgetrocknet. Wir haben einen Arbeitnehmermarkt.

Dafür kann man aber sagen, dass die Pflegefachleute generell schlecht entlöhnt sind.

Dass es kein Hochlohnsegment ist, lässt sich nicht wegdiskutieren. Aber wir haben bei den von der öffentlichen Hand vorgegebenen Pflegekosten praktisch keinen Spielraum und die Höhe der Löhne können wir auch nicht selber bestimmen.

Wie bitte? Das müssen Sie mir erklären. 

Von den rund 100'000 Pflegebetten in der Schweiz sind 4 bis 5 Prozent in privater Hand. Senevita hat rund 1400 Betten, repräsentiert also nur zirka 1,4 Prozent es Marktes. Wir könnten es uns nicht leisten, weniger als die öffentlichen Heime zu zahlen.

Wenn wir einen Arbeitnehmermarkt hätten, wie Sie sagen, müssten die Löhne steigen.

Das tun sie auch: Gut ausgebildete Mitarbeitende sind sehr gesucht. Jedes Institut wird viel dafür tun, solche Leute zu finden und auch zu halten. Das hat automatisch steigende Löhne zur Folge. Ich würde aus Erfahrung sagen, dass der Lohn einer ausgebildeteen Pflegefachkraft in den letzten fünf Jahren im Schnitt um 2 Prozent pro Jahr gestiegen ist.

Was tun Sie um, Ihre Mitarbeiterinnen ansgesichts des ausgetrockneten Arbeitsmarktes behalten zu können? 

Ein gutes Team mit einem positiven Teamgeist ist zentral. Zudem investierten wir in den letzten zwei Jahren sehr stark in die Aus- und Weiterbildung. Mit unserer Senevita-Akademie bieten wir unserer Mitarbeitenden jährlich um die 230 Aus- und Weiterbildungen kostenlos an. Auch externen Teilnehmern stehen die Kurse offen. 

 


Der Fachkräftemangel ist nicht nur ein Phänomen der Pflegebranche. Die Wirtschaft ortet zwei schlummernde Potentiale: die Frauen und die Alten.

Bei uns liegt der Frauenanteil in der Pflege bereits bei über 85 Prozent. Ein schlummerndes Potential sehe ich eher bei den Männern. Wobei sich die Situation bereits verändert: Mehr und mehr Männer lassen sich zum Pflegefachmann  FH oder HF ausbilden. Die Pflegebranche bietet interessante Karrieremöglichkeiten an.

Zum Beispiel?

In unseren 27 Institutionen haben wir 23 Leiterinnen Pflege und Betreuung und 4 Leiter. Diese Führungspersonen haben mitunter bis zu 140 Mitarbeiterinnen über mehrere Führungsstufen in ihrem Verantwortungsbereich. Auch mit Nachholbildungen versuchen wir, den Fachkräftemangel zu bekämpfen.

Habe ich Sie richtig verstanden: Nachholbildungen?

Der steigende Bedarf nach Pflegepersonal wird in der Schweiz in den nächsten Jahren dazu führen, dass sich Arbeitskräfte umschulen und die Pflege wechseln werden. Wir haben bei uns Mitarbeitende im Hausdienst, die gerne in den Pflegeberuf wechseln würden, sich aber eine Lehre mit der entsprechenden Lohneinbusse nicht leisten können. Entsprechend haben wir ein Modell entwickelt, um solchen Mitarbeitenden eine Nachholbildung zur Fachfrau oder zum Fachmann Gesundheit ohne markante Lohneinbusse zu ermöglichen.

Wie stehts mit den Bemühungen, bestandene Mitarbeiter übers AHV-Alter hinaus zu beschäftigen?

Bisher habe ich seitens der Mitarbeitenden selten ein entsprechendes Bedürfnis wahrgenommen. Aber Sie haben Recht: Hier besteht allenfalls Handlungsbedarf. Die Frage ist natürlich, ob die Mitarbeiterinnen überhaupt länger arbeiten wollen. Der Pflegeberuf ist sehr anstrengend.

Vor allem psychisch, denke ich.

Ich denke vor allem physisch. Pflegende müssen die Bewegungen der Bewohner unterstützen, zum Beispiel helfen, sich aufzurichten oder in den Rollstuhl zu sitzen. Dazu braucht eine Pflegefachperson nebst einer guten Kondition vor allem die entsprechende Schulung, wie sie das möglichst gelenkschonend macht.

Müsste hier nicht der technischen Fortschritt Abhilfe schaffen?

Doch. Ich verspreche mir vom technischen Fortschritt in den nächsten Jahren wesentliche Verbesserungen, um die körperliche Arbeit unserer Mitarbeiterinnen zu erleichtern.

In den letzten Jahren war in den Medien mitunter auch von unzufriedenen Mitarbeitern zu lesen.

Ja. Bei über 4000 Mitarbeitende und 220 Lernenden gibt es leider immer auch einzelne Mitarbeitende, die mit ihrem Arbeitgeber nicht zufrieden sind. Wir haben mit allen das Gespräch gesucht. Zudem wurden auch Sachen geschrieben, die nicht der Wahrheit entsprechen.

Was zum Beispiel?

Man warf uns unter anderem vor, bei der Anzahl der Mitarbeitenden zu sparen. Sie müssen aber wissen, dass die Kantone verbindliche Vorgaben machen, wie viele Mitarbeiter mit welchen Qualifikationen einzusetzen sind.

Ihre Muttergesellschaft, die französische Orpea, ist börsenkotiert. Im Unterschied zu den meisten Ihrer Mitbewerber muss Senevita Gewinne erzielen.

Was ist schlecht daran, wenn ein Unternehmen nachhaltig arbeitet? Die Finanzierung der Pflege ist für alle gleichermassen gesetzlich geregelt: Es ist klar festgelegt, wieviel die Krankenversicherer zahlen und was Kanton und Gemeinden als Restfinanzierer beisteuern. Zudem sind alle Anbieter an kantonale Richt- und Mindeststellenpläne gebunden. Die Personalkosten und die Tarife sind für private und öffentliche Heime absolut identisch - unabhängig von der Trägerschaft. Es sei denn, die Gemeinde, sprich der Steuerzahler, deckt automatisch das Defizit. Bei uns ist das nicht nötig.
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    Christoph Gassner,

    vor 43 Jahren geboren, ist seit sieben Jahren bei der Senevita, der schweizweit grössten privaten Anbieterin von ambulanten und stationären Dienstleistungen im Alter. Seit Anfang Jahr ist der in Thun aufgewachsene Betriebswirtschafter deren CEO. Er studierte in Lausanne und Michigan (USA) und war vor dem Engagement bei der Senevita zehn Jahre als Wirtschaftsprüfer und im Bereich M&A bei Deloitte in Zürich tätig.

Kosten und Leistungen sind vorgegeben. Öffentliche Heime müssen keine Gewinne erzielen; Senevita hingegen schon. Wie schaffen Sie das?
Zum einen mit Effizienzgewinnen. Als Gruppe profitieren wir von Skaleneffekten in der Verwaltung oder beim Einkauf. Zudem haben wir Synergien zwischen dem Betreutem Wohnen und der Pflege - auch dank unseren Restaurationsbetrieben. Wir decken die gesamte Behandlungskette ab: von der Spitex über das Betreute Wohnen bis zum eigentlichen Pflegeheim. Wir sind der Pionier des betreuten Wohnens....

Wie das?

Philipp Zemp hat 1989 die Senevita gegründet. Das Konzept bestand darin, betreutes Wohnen und eine Pflegeabteilung unter einem Dach zu vereinen. So können unsere Bewohner möglichst lange selbständig oder mit wenig Unterstützung in der eigenen Wohnung bleiben, immer jedoch mit der Sicherheit, dass qualifiziertes Pflegepersonal nur ein Stockwerk entfernt ist. Es kommt vor, dass ein Bewohner für ein paar Wochen in die Pflegeabteilung umzieht, aber dann wieder in die eigene Wohnung zurückkehren kann.
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