Spitalinfektionen: Ein Urteil mit nationalen Auswirkungen

Drei Patienten wurden bei einer Untersuchung mit dem Hepatitis-Virus angesteckt – jetzt wurde das Krankenhaus strafrechtlich verurteilt. Bei 70'000 Spitalinfektionen pro Jahr dürfte dies nicht ohne Konsequenzen bleiben.

, 23. November 2016 um 06:58
image
  • spital
  • kunstfehler
  • ente ospedaliero cantonale
  • tessin
  • hepatitis
Fahrlässige schwere Körperverletzung: So lautet das Urteil gegen die Tessiner Kantonsspital-Gruppe EOC. Der Richter am Strafamtsgericht Bellinzona folgte in der Argumentation weitgehend dem Staatsanwaltschaft – und sprach eine Strafzahlung von 60'000 Franken aus.
Im Dezember 2013 waren im Ospedale Civico von Lugano drei Patienten mit Hepatitis C infiziert worden. Der Vorfall ereignete sich beim Spritzen eines Kontrastmittels in der Radiologieabteilung. Die EOC anerkannte den Fehler und bot ihre medizinische und psychologische Unterstützung an; in der Zwischenzeit gelten die Patienten als geheilt.

«Con impatto nazionale»

«Lesioni colpose gravi», lautet dennoch die Einschätzung des Gerichts. «Man muss kein Arzt sein, um zu verstehen, dass dies eine ernsthafte Krankheit ist, die nicht nur körperlich, sondern auch emotional beeinträchtigt», sagte Richter Siro Quadri in der Urteilsbegründung.
Die Staatsanwaltschaft hatte eine Strafzahlung von mindestens 100'000 Franken verlangt. Doch obwohl das Urteil des Strafrichters in Bellinzona unter dieser Forderung blieb, kündigte das Kantonsspital umgehend an, dass es den Entscheid anfechten werde. Denn für die Leitung des EOC, vor Ort vertreten durch CEO Giorgio Pellanda, könnte dieser Fall einen Wendepunkt fürs Schweizer Gesundheitssystem bilden: «una sentenza con impatto nazionale».
|   Zur Stellungnahme der Ente Ospedaliero Cantonale (EOC): «Processo per l’infezione da epatite C all’Ospedale Civico: una sentenza con impatto nazionale»   |
Wann kann ein Spital strafrechtlich zur Verantwortung gezogen werden? Selbst während der Behandlung sei nie bezweifelt worden, dass das Ospedale Civico höchste Standards der Sicherheit und der Transparenz biete, so die Spital-Argumentation. Unbestritten sei auch gewesen, dass sich alle Beteiligten an die Vorschriften sowie an nationale und internationale Standards gehalten hätten.

«Cosi fan tutte»-Logik

Es hätte fatale Konsequenzen, die normale Spitalarbeit strafrechtlich derart zu bedrohen. Und der Fall der infizierten Patienten zeige nurmehr, dass hundertprozentige Sicherheit nicht möglich ist – dies die Schlussfolgerung des EOC. Eine Argumentation, welche Staatsanwalt John Noseda als «Cosi fan tutte»-Logik abtat.
Das Kernproblem: Weder dem Spital noch den ermittelnden Behörden war es gelungen, die Verantwortlichen für die Infektion zu eruieren; dies auch, weil die Ansteckung erst viel später erkannt worden war. Das Gericht drehte dieses Problem nun gegen das Spital: Die Wissenslücke widerspreche dem kantonalen Gesundheitsgesetz, welches verlangt, dass alle Abläufe rekonstruiert werden müssen.
Und genau hier könnte sich der erwähnte Wendepunkt auftun. Sollten die Spitäler den in Bellinzona gesetzten Standards entsprechen müssen, hätten sie die Pflicht, enorme Datenmengen über Einzelhandlungen zu speichern, auf Monate hinaus – auch von Routineschrittchen. Und dennoch, so nun die Argumentation der EOC, würde bei rund 70'000 Spitalinfektionen pro Jahr in der Schweiz grosse Unsicherheit entstehen. 
Artikel teilen

Loading

Comment

2 x pro Woche
Abonnieren Sie unseren Newsletter.

oder

Mehr zum Thema

image

Jede Notfall-Konsultation kostet 460 Franken

Notfallstationen werden immer öfter besucht. Eine Obsan-Studie bietet neue Zahlen dazu. Zum Beispiel: 777'000 Personen begaben sich dreimal in einem Jahr auf den Spital-Notfall.

image

Zürcher Krankenhäuser und Versicherer haben sich geeinigt

Nun ist ein jahrelanger Streit beendet: Die Zürcher Spitäler vereinbaren mit Helsana, Sanitas und KPT einen Taxpunktwert von 93 Rappen - ein Kompromiss.

image

Balgrist-Team behandelt im Spital Männedorf

Das Spital Männedorf hat eine neue Klinik für Orthopädie und Traumatologie. Das Team kommt vom Balgrist.

image

Solothurner Spitäler: Bericht zu CEO-Lohn bleibt vorerst geheim

Noch ist unklar, ob Zusatzzahlungen an den Ex-Chef der Solothurner Spitäler rechtens waren. Der Bericht dazu ist da - aber nicht öffentlich.

image

Kispi wegen «Riesenfete» kritisiert – doch die Köche arbeiten gratis

Das überschuldete Kinderspital Zürich feiere seinen Neubau mit einem Michelin-Sternkoch, schreibt ein Online-Medium provokativ.

image

Weitere Umstrukturierung bei Hirslanden – Thomas Bührer in die Konzernleitung

Die Spitalgruppe schafft intern eine neue «Region Mittelland». Damit sollen die Versorgerregionen auch näher an der Konzernleitung sein.

Vom gleichen Autor

image

Überarztung: Wer rückfordern will, braucht Beweise

Das Bundesgericht greift in die WZW-Ermittlungsverfahren ein: Ein Grundsatzurteil dürfte die gängigen Prozesse umkrempeln.

image

Kantone haben die Hausaufgaben gemacht - aber es fehlt an der Finanzierung

Palliative Care löst nicht alle Probleme im Gesundheitswesen: … Palliative Care kann jedoch ein Hebel sein.

image

Brust-Zentrum Zürich geht an belgische Investment-Holding

Kennen Sie Affidea? Der Healthcare-Konzern expandiert rasant. Jetzt auch in der Deutschschweiz. Mit 320 Zentren in 15 Ländern beschäftigt er über 7000 Ärzte.