Wenn es um den Vorwurf der Überarztung geht, nimmt es das Bundesgericht sehr genau. Schon mehrmals wies die oberste Rechtsinstanz Urteile zurück, in denen Ärzte zu Rückzahlungen an die Krankenkassen
verurteilt worden waren. Jetzt liegt wieder solch ein Entscheid aus Lausanne vor: Ein Berner Arzt setzte sich dabei gegen 26 Krankenkassen durch.
Und dieses Bundesgerichtsurteil könnte ganze WZW-Verfahren umstürzen.
Denn die Richter stellen darin klar: Es genügt nicht, einem Arzt durch statistische Methoden vorzurechnen, dass er seine Patienten zu aufwändig und damit zu teuer behandelt (womit er sich womöglich ein unstatthaftes Gehalt verschafft hat). Sondern zwingend nötig dafür sei «eine komplette Einzelfallprüfung».
Mit anderen Worten: Wenn die Krankenkassen Geld zurückfordern wegen Überarztung, dann müssen sie diese Überarztung auch ganz konkret belegen können. Statistische Auffälligkeiten mit nachfolgender Beweislast-Umkehr genügen nicht.
- Bundesgerichtsurteil 9C_135/2022 vom 12. Dezember 2023.
Konkret drehte sich der Prozess um einen Allgemeinmediziner aus dem Kanton Bern: Die Krankenkassen zogen ihn 2019 vor das kantonale Schiedsgericht in Sozialversicherungsstreitigkeiten. Dieses befand nach einigem Hin und Her im Januar 2022, dass der Mediziner für 2013 bis 2015 kategorisch 500’000 Franken und für das Jahr 2017 gut 267’000 Franken zurückerstatten muss. Das Gericht sah den Vorwurf als erwiesen an, die «erbrachten ärztlichen Leistungen seien im Sinn von Art. 56 Abs. 1 KVG unwirtschaftlich gewesen.»
Der Arzt aber zog den Fall vors Bundesgericht. Seine Forderung: Es sei «eine systematische Einzelfallprüfung oder repräsentative Einzelfallprüfung mit Hochrechnung» respektive «eine Einzelfallanalyse im Rahmen der Screening-Methode durchzuführen.» Das Schiedsgericht habe Besonderheiten seiner Praxis nicht angemessen berücksichtigt – während das angewandte (und übliche) Screening-Verfahren ihn einfach als statistischen Ausreisser festmachte.
«Es genügt nicht, eine Klage anzukündigen und dem Adressaten Gelegenheit zur Stellungnahme zu geben, ohne ihm dabei vor Augen zu führen, dass die Klage auf davon abhängigen Abklärungen beruhen wird.» — Aus dem BG-Urteil.
Der Kassenverband Santésuisse hatte ihm eingangs vorgerechnet, dass er mit einem so genannten Regressionsindex von 144 Punkten doch deutlich von vergleichbaren Praxen abgewichen war – man werde sich also ans Schiedsgericht wenden. Dabei machte der Verband kein grosses Geheimnis daraus, dass das Vorgehen recht summarisch war: Die Eingabe diene «in erster Linie der Fristwahrung». Die angekündigte Rückforderung «berücksichtige noch keine weiteren Praxismerkmale.» Und man sei «nach wie vor an einer gütlichen Einigung interessiert.»
Nachdem der Arzt darauf nicht reagiert hatte, nahm die Versicherungsseite an, dass er das Vorgehen akzeptiert – und meldete dem Schiedsgericht, die Einzelfallanalyse sei in diesem Fall vollzogen. Der Beklagte habe alle zusätzlichen, «auf Diagnosen beruhenden» Kostenfaktoren vorbringen können.
«Nicht vollständig umgesetzt»
Das war offenbar ein Schwachpunkt. Denn in seinem Urteil hält das Bundesgericht fest, dass die so genannte Screening-Methode (bei der die Krankenkassen statistisch Auffälligkeiten aufgreifen) «keinen Nachweis für eine Überarztung» liefert, sondern lediglich ein Feststellungsverfahren einleiten kann. Danach sei aber immer eine Einzelfall-Analyse nötig.
Im konkreten Fall waren die «Kläger» aber zu flüchtig vorgegangen: «Nach dem Gesagten sind die vorinstanzlichen Entscheidungsgrundlagen unvollständig», so das Urteil. «Der Beschwerdeführer rügt daher zu Recht, dass die Beschwerdegegner resp. die Vorinstanz die Einzelfallanalyse als zweiten Teil der Wirtschaftlichkeitsprüfung nicht vollständig umgesetzt haben.»
Der Entscheid wurde am Ende umgestürzt, die Gerichtskosten gingen voll an die Krankenkassen, derweil der Arzt noch eine Parteientschädigung von 6000 Franken erhält.
«Eine im Screening konstatierte Auffälligkeit erbringt somit keinen Nachweis für eine Überarztung, sondern leitet ein entsprechendes Feststellungsverfahren ein. Daraus folgt, dass die bislang herrschende Ansicht, die statistische Methode sei eine 'Beweismethode' … überholt ist.» — Aus dem BG-Urteil.
Im Hintergrund steht, dass das nun angekratzte Verfahren weitherum abgesegnet schien: Es wird seit Jahren angewandt und wurde von mehreren kantonalen Gerichten in der Urteilsfindung akzeptiert.
Vor allem: Santésuisse und Curafutura hatten es mit der FMH im Februar 2023 vertraglich vereinbart. Allerdings stand in jenem Abkommen auch: «Eine alleinige Verwendung des Regressions-lndex ist auch für andere Zwecke ohne Einzelfallanalyse nicht zulässig.»
Und diese Einzelfallanalyse – so mag man nach dem Bundesgerichtsurteil anfügen – sollte detailliert durchgeführt werden. Zum Beispiel sind alle massgeblichen Eigenheiten einer Praxis einzukalkulieren, beispielsweise die Selbstdispensation.
Doch was bedeutet das jetzt? Wie weiter?
Die FMH wollte noch keine Stellungnahme abgeben: Es sei noch zu früh für eine Einschätzung. Santésuisse wiederum macht keinen Hehl daraus, dass die veränderte Beweis-Lage ein Problem schafft: «Der Bundesgerichtsentscheid behindert effiziente Verfahren, weil er den administrativen Aufwand für die Krankenversicherer unnötigerweise weiter erhöht», schreibt Verbandssprecher Stefan Schneider.
Und weiter: «Leider ist es oft so, dass Leistungserbringer die gesetzlich definierte Mitwirkungspflicht nur mangelhaft oder gar nicht wahrnehmen – oft aus Kalkül, um das Verfahren zu behindern bzw. in die Länge zu ziehen. Schon heute dauern Rückforderungsverfahren nicht selten 5-8 Jahre, bis es zu einem rechtsgültigen Urteil kommt. Mit dem Bundesgerichtsentscheid dürften sie noch länger dauern, aufwändiger und teurer werden.»