Es wird derzeit viel diskutiert – über junge Assistenzärzte, die am Limit laufen, über zu lange Arbeitszeiten und darüber, dass immer mehr Nachwuchsärzte den Beruf an den Nagel hängen. «Über was aber nie gesprochen wird, ist darüber, wie es eigentlich uns chirurgischen Assitenzärzten geht», sagt Tobias Kuhn*; er ist Chirurgie-Assistenzarzt an einem grösseren Schweizer Spital.
In ihm hat sich viel Frustration aufgestaut, denn eigentlich möchte er nur eines: Operieren und ein qualitativ guter Chirurg werden.
Stattdessen sitzt er vorwiegend am Schreibtisch und schlägt sich mit mühseliger Administration herum. Im Operationssaal steht er hingegen kaum.
«Arbeitszeit ist nicht das Problem»
Anstatt dieses Problem anzugehen, habe sich der Verband Schweizer Assistenz- und Oberärzte (VSAO) auf die Einführung einer 42-Stunden-Woche eingeschossen und hoffe, damit die Probleme zu lösen. In der Chirurgie führe dies aber zu einem Qualitätsproblem; und eine solche Regulierung sei schlicht realitätsfremd, ist Kuhn überzeugt.
«In einigen medizinischen Fachrichtungen ist eine 42-Stunden-Woche durchaus umsetzbar, für uns Chirurgen wäre eine solche Beschränkung jedoch fatal». Denn in der Chirurgie ist Quantität eine Voraussetzung für Qualität – wer ein guter Chirurg werden möchte, braucht praktische Übung.
Wer zuviel arbeitet, wird bestraft
Geschätzt werde überdurchschnittliches Engagement in der Chirurgie jedoch nicht. Dazu Tobias Kuhn: «Bei meinen Kollegen in der Finanzbranche oder in der Unternehmensberatung gilt: Wer arbeitet wird belohnt, sonst kommt man nicht weiter. So besteht der tägliche Anspruch, sich persönlich auf dem besten Weg zu entwickeln». Im Spital hingegen gelte: Mehraufwand wird nicht belohnt. Im Gegenteil: Wer zuviel arbeitet, wird bestraft.
«Wir stehen wöchentlich gerade einmal 3,5 Stunden im Operationssaal und operieren davon, wenns gut kommt, eine Stunde. »
Die Regulierung der Arbeitszeit und die Ausbildung von viel zu vielen Chirurgie- Assistenten mache den Beruf kaputt und sei einfach nur frustrierend, so Kuhn. Seit Einführung des Gesamtarbeitsvertrages 2006 hat sich die Zahl der chirurgischen Assistenten und der Oberärzte (in Weiterbildung) verdoppelt, die Zahl der operativen Eingriffe stieg jedoch nur um etwa 10 bis 15 Prozent. Dass hier die Exposition im Operationssaal eingebrochen ist, erstaunt nicht.
«Fühle mich ausgenutzt»
Tobias Kuhn konkretisiert: «Wir sind über 30 Assistenten und teilen uns acht ‘Ops’-Säle. Bei einer durchschnittlichen 50-Stunden Woche stehen wir so gerade einmal drei bis vier Stunden im Operationssaal und operieren davon, wenn es gut kommt, eine Stunde selber».
Die restliche Zeit sei man mehrheitlich mit Administration, Dokumentation und «nichtärztlichen» Arbeiten beschäftigt.
«Es ist absurd – damit wir operieren und weiterkommen können, drehen wir illegale Dinge. Etwa dass wir uns ‘ausbadgen’ und danach weiteroperieren. Niemanden interessiert es.»
Und genau das sei zehrend und nehme letztlich die Freude am und Leidenschaft für den Beruf. Studien zeigen denn auch, dass es bei den Chirurgen eine Korrelation gibt zwischen Burnout-Quote und administrativem Aufwand. Kuhn kann das nachvollziehen: «Operieren ist der schöne Teil der Arbeit, der mir die ganze Motivation und Freude gibt und mich auch nicht belastet– belastend sind hingegen die administrativen Leerläufe.»
Zugleich fühle er sich auch ein Stück weit ausgenutzt: schliesslich seien Assistenten die mit Abstand billigsten Arbeitskräfte in einem Spital, ein Grossteil ihres Gehaltes wird vom Staat bezahlt.
Wir operieren illegal
Kuhn will vorwärtskommen. Er will im Operationsaal stehen. Und er wäre noch so gerne bereit, dafür Extrasstunden zu leisten – wie es früher bei angehenden Chirurgen normal war. Aber man lässt ihn nicht. Wenn er denn mal im Operationssaal steht und die zugelassene Arbeitszeit von 50 Wochenstunden erreicht hat, wird es bereits wieder kritisch. Denn die erlaubten 140 Stunden Überzeit (die meisten davon entstehen - wen wunderts - mit Administration) können nicht kompensiert werden; einem Spital droht gar Strafanzeige. «Es ist absurd – damit wir operieren und weiterkommen können, drehen wir illegale Dinge. Etwa dass wir uns ‘ausbadgen’ und danach weiteroperieren. Niemanden interessiert es.»
Qualität leidet
Die Qualität leide – einerseits, weil das Niveau unter den vielen Assistenten deutlich gesunken sei, andererseits weil die Übung fehle. Zur Verdeutlichung: früher brauchte es für den Facharzt noch 1000 Operationen, heute sind es weniger als 500 – Teileingriffe sind zudem auch zählbar.
Das 42+4-Konzept des VSAO
Der Verband Schweizerischer Assistenz- und Oberärztinnen und -ärzte lancierte im Frühjahr 2023 ihre Forderung nach dem 42+4-Prinzip: Danach soll die wöchentliche Arbeitszeit für Assistenzärzte durchschnittlich 42 Stunden Dienstleistung rund um die Patientenbetreuung betragen. Zusätzlich sollen die die Assistenzärzt Anrecht auf wöchentlich mindestens vier Stunden strukturierte Weiterbildung haben. Diese würde ebenfalls als Arbeitszeit gelten.
Tobias Kuhn sieht deshalb vor allem die Chefärzte in der Pflicht, motivierte Chirurgie-Assistenten an die Hand zu nehmen und zu fördern. Es müsse ‘die Spreu vom Weizen’ getrennt und nur noch die besten Assistenten ausgebildet werden.
«Die Weiterbildungsstruktur muss prinzipiell überdacht und den Anforderungen angepasst werden», sagt er. Kleine konstante Teams mit selektionierten Kandidaten und Tutoren könnten ein Ansatz sein: «Nicht jeder Assistent ist in der Chirurgie am richtigen Ort, aber kaum ein Chefarzt getraut sich, eine Selektion vorzunehmen», so Kuhn. Zu gross sei die Angst, wegen Ungleichbehandlung an den Pranger gestellt zu werden.
Frust auf beiden Seiten
Geholfen sei damit niemanden – die Frustration und die Gleichgültigkeit wachse auf beiden Seiten. Die Stimmung sei deprimierend, weil keine Förderung und kaum ein Teaching stattfinde: «Die Chefs verlieren den Draht zu ihren Assistenten, was verständlich ist. Schliesslich steht, wegen den regulativen Arbeitszeitmassnahmen, jeden Tag ein anderer Assistent im 'Ops'.»
Weil viele Überstunden durch unnötige Aufgaben entstehen, wünscht sich Kuhn, dass sie weniger mit regulatorischen Vorschriften und einer Verschärfung des Arbeitsgesetzes geknebelt werden, sondern vielmehr von administrativen Aufgaben entbunden werden. «Damit genügend Zeit für eine chirurgisch qualitative Ausbildung im Operationssaal bleibt!»
* Auf Wunsch des Gesprächspartners wurde sein Name von der Redaktion geändert.