So ein Urteil gab es in Frankreich noch nie: Die beiden Marseiller Zahnärzte Lionel Guedj (43), und sein Vater Jean-Claude (72) wurden vor einem halben Jahr wegen vorsätzlicher Gewalt gegen ihre Patienten zu acht und fünf Jahren Haft ohne Bewährung verurteilt.
Nur aus Profitgier
Die Richterin entschied bereits damals: Die beiden gesetzlosen Zahnärzte hätten «ein besonders gut funktionierendes System» aufgebaut, das «lächelnde Leben zerstörte» und «unerträgliche Schmerzen» verursachte, wobei die einzige Motivation die Profitgier gewesen sei.
Lukrativer Zahnersatz
Der Sohn Lionel Guedj sei der Haupttäter. Er habe reihenweise Zähne abgetötet, um darauf einträgliche Prothesen zu montieren.
Nun melden die französischen Medien über die mittlerweile im ganzen Land bekannten Zahnärzte, dass sie sich gegen das Urteil wehren. Sie hätten nicht Absicht gehabt, den Patienten zu schaden.
Die Vorgeschichte
Eine Krankenversicherung war den Zahnärzten auf die Schliche gekommen. Sie wunderte sich über die grosse Anzahl an Zahnprothesen, welche sie zurückerstatten musste.
Versichert bei Swiss Life
Die Versicherung, welche den beiden Zahnärzten ihr einträgliches Geschäftsmodell ermöglicht hat, ist ausgerechnet der grösste Lebensversicherungskonzern der Schweiz, Swiss Life. Der Ableger in Frankreich bietet günstige Zahnversicherungen an, welche je nach Modell den Einsatz von Zahnkronen fast vollständig bezahlt.
«Starlächeln» versprochen
Den Zahnärzten wurde darauf die Zulassung entzogen, und es meldeten sich immer mehr geschädigte Patienten.
Sie kamen alle aus den ärmeren Vierteln im Norden von Marseille und wurden damit geködert, dass sie gratis oder für wenig Geld «ein Starlächeln» erhalten würden. Weil die Versicherung zahlt.
Rund um die Uhr gearbeitet
Seinen exorbitanten Umsatz – im Jahr 2010 waren es fast drei Millionen Euro – erzielte Lionel Guedj, indem er, unterstützt von seinem Vater, nonstop von 6 bis 23 Uhr arbeitete. Guedj hat fast 30-mal mehr Prothesen eingesetzt als ein französischer Durchschnittszahnart.
Das System dahinter: Er habe mehrere Tausend gesunde Zähne beschädigt, damit er der Versicherung eine Prothese in Rechnung stellen konnte.
Als Retter niedergelassen
Vor Gericht war die Rede von der «Guedj-Maschine»: Ein Geschäftsmodell, das darin besteht, sich in einem Gebiet als Retter niederzulassen, dort eine glänzende Praxis zu eröffnen und eine Verführungsstrategie zu entwickeln: mit freundschaftlichem Duzen, Kaffee und schnellen Terminen.
Gesunde Zähne abgetötet
Schon bei der ersten Konsultation stellte der Zahnarzt offenbar jeweils grosse Baustellen fest, ohne dass der Patient wirklich Zeit hatte, etwas zu realisieren oder zu überprüfen. Kranke Zähne wurden nicht behandelt und gesunde Zähne wurden zerstört.
Bis zu Scheidungen und Depressionen
Doch oft traten nach der Behandlung Zahnstörungen auf, die vom Zahnarzt heruntergespielt wurden, aber das Leben von mehreren Dutzend Opfern ruinierten: Körperliche Schmerzen und ästhetische Beeinträchtigungen hätten zu Scheidungen, Depressionen und dem Verlust des Arbeitsplatzes geführt, argumentierten die Anwälte der Opfer.
Teure Wohnungen und ein Porsche
Schon beim ersten Prozess letztes Jahr verteidigte sich Lionel Guedj – allerdings mit wenig überzeugenden Argumenten: Er sei in einem Teufelskreis von Krediten und Kaufzwang gefangen gewesen.
Er besass Hunderte von Wohnungen an der Côte d'Azur, in Skigebieten, in La Rochelle oder Perpignan, Kunstwerke, eine Yacht, einen Porsche Cayenne, einen Aston Martin und ein Dutzend Firmen.
Nur «Nachlässigkeit»
Das Gericht bestand trotz allem darauf: Seine Behandlungen waren vorsätzliche Gewalt und nicht fahrlässige Körperverletzung. Deshalb legten Vater und Sohn Berufung ein.
Derzeit läuft dieser erneute Prozess im südfranzösischen Aix-en-Provence. Bemerkenswert ist, dass Lionel Guedj darauf beharrt, nicht schuldig zu sein. «Ich habe vielleicht einige Nachlässigkeiten begangen», sagte er laut den französischen Medien vor Gericht. Er habe aber nie vorsätzliche Fehler begangen.
Ein «Jugendfehler»
Er hat seiner Meinung nach einen «Jugendfehler» begangen: Er sei ein übertrieben engagierter Zahnarzt, der nie einen Patienten abgelehnt habe. Die Praxis sei von Anfang an sehr gross gewesen, sagte er aus.
Zu viele Patienten mit «grossen Problemen»
Die Leute seien zu ihm gekommen und hätten gesagt: «Du hast meinem Cousin die Zähne gemacht, mir fehlen auch ein paar Zähne». Er sei immer sehr menschlich gewesen und sehr nah an seinen Patienten. «Ich gehe mit ihnen durch Freud und Leid.»
Warum er so viel mehr Kronen verrechnete als seine Kollegen begründete er damit, dass man ihm Patienten mit sehr grossen Zahnproblemen geschickt habe. Der Prozess dauert bis Ende Juni.
Ein Opfer erzählt
In der Zeitung «La Provence» gab ein Opfer seine Leidensgeschichte zu Protokoll:
Samy (der Name wurde geändert) war 35 Jahre alt, als er zu Lionel Guedj ging, weil es ihm ein Freund empfohlen hatte. Der erste Kontakt mit dem Zahnarzt sei überzeugend gewesen. «Er hat mich geduzt, ich war beruhigt, ich hatte nur zwei oder drei alte Kariesschäden.» Beim ersten Termin wurde eine Röntgenaufnahme gemacht. Eine Woche später, als Samy auf dem Behandlungsstuhl lag, sagte ihm der Zahnarzt: Seine Zähne seien tot, er müsse sie entfernen und werde sie durch schönere ersetzen.
Verfaulte Zähne
Samy wollte das Röntgenbild sehen. Der Zahnarzt zeigte ihm an den Wurzeln schwarze Hohlräume, um ihm zu beweisen, dass seine Zähne verfault seien. «Was soll man sagen, wenn man kein Spezialist ist?», fragt er. Vier Zähne wurden devitalisiert. Vier Prothesen wurden eingesetzt.
Infektionen
«Eine Woche später hatte ich Infektionen. Der Kleber an den Implantaten schien zu quellen», erinnert sich Samy auf. Als Notfall kehrte er in die Praxis zurück. Der Vater des Zahnarztes übernahm «den Kundendienst». Die verschriebenen Antibiotika zeigten Wirkung, aber Samy wechselt den Zahnarzt. «Der neue hat mir gesagt, dass es eine Katastrophe sei.»
Samy ist zwar der Meinung, dass er im Vergleich zu anderen nicht allzu schlecht weggekommen sei, aber er erwartet eine Entschädigung.