Die Schweizer Gesundheitsversorgung ist nach wie vor eine der besten weltweit. Doch ist das auch in Zukunft noch garantiert? Dieser Frage widmete sich das Roche Forum 2024, das am 21. Oktober in Basel stattfand.
Die Frage hallte nach, denn die Antwort darauf ist keineswegs einfach. Obwohl die Schweiz auf internationaler Ebene eine Spitzenposition in der Gesundheitsversorgung einnimmt, belasten wachsende strukturelle Schwächen, Fachkräftemangel und die zu langsam fortschreitende Digitalisierung das System.
Wo Qualität auf die Probe gestellt wird: Über die Baustellen im System
Prof. Dr. Milo Puhan eröffnete das Forum mit einem tiefgreifenden Einblick in die grössten Baustellen des Schweizer Gesundheitssystems. Als Direktor des Instituts für Epidemiologie, Biostatistik und Prävention an der Universität Zürich betonte er, dass „Qualität“ im Gesundheitswesen mehr sei als eine Ansammlung medizinischer Leistungen.
„Qualität ist ein vielschichtiges, schwer fassbares Konstrukt,“
erklärte Puhan und beschrieb, dass neben medizinischer Exzellenz auch die Zufriedenheit des Fachpersonals, ausreichende Ressourcen und die Kooperation aller Akteure unverzichtbar seien. Nur wenn diese Faktoren harmonisch ineinandergreifen, könne das System auch langfristig bestehen.
Eine der weitreichenden Herausforderungen sieht Puhan im wachsenden Fachkräftemangel, der die Gesundheitsversorgung zunehmend belastet.
„Ohne zufriedene Fachkräfte wird die Qualität der Versorgung zwangsläufig leiden,“ warnte er.
Die hohe Arbeitslast und der steigende bürokratische Druck würden viele medizinische Talente bereits in frühen Karrierephasen aus dem System treiben. So berichtete Puhan von einem jungen Assistenzarzt, der ihm sagte:
„Wenn das Gespräch mit dem Patienten erst nach Feierabend möglich ist, weil der Tag von Formularen bestimmt wird, läuft etwas grundsätzlich falsch.“
Diese stille Erosion bedrohe langfristig die Versorgungssicherheit, da Erschöpfung und Zeitmangel eine hohe Qualität unmöglich machen würde.
Puhan hob zudem die Unterschiede zwischen der Wahrnehmung der Gesundheitsversorgung in der Bevölkerung und den realen strukturellen Problemen hervor. So zeigt eine Umfrage, dass 60 Prozent der Schweizer Bevölkerung das Gesundheitssystem als „gut“ oder „sehr gut“ bewerten. Doch er warnte davor, sich in diesem positiven Bild zu verlieren:
„Eine hohe Zufriedenheit in der Bevölkerung bedeutet nicht automatisch, dass das System effizient und nachhaltig ist.“
Menschen, die das System intensiver nutzen – etwa chronisch Kranke oder ältere Patienten – machen oft kritische Erfahrungen, die die Schwächen des Systems offenbaren. Abschliessend plädierte Prof. Puhan für eine zukunftsorientierte Gesundheitsversorgung, die stärker auf Prävention setzt, die Bedürfnisse der Fachkräfte berücksichtigt und die Lebensqualität der Bevölkerung langfristig steigert.
Interaktive Tischdiskussionen: Neue Wege gegen alte Hürden
Nach den eindringlichen Worten von Prof. Puhan setzten die Teilnehmer ihre Diskussionen an den Tischen fort. Der Fachkräftemangel, steigende Bürokratie und die ungenutzten Potenziale der Digitalisierung standen dabei im Fokus. Neue Lösungsansätze zur Entlastung des Personals, wie beispielsweise durch weniger administrative Verantwortungen und die Schaffung attraktiverer Arbeitsbedingungen wurden als zentrale Strategien identifiziert.
Die Digitalisierung wurde als Schlüsselfaktor für Effizienz und Qualität erkannt. Schliesslich wurde betont, dass mehr Eigenverantwortung der Patienten zur Entlastung beitragen und das System zukunftssicher machen könnte.
Auf dem Podium: Expertinnen und Experten geben Klartext – und Visionen
Nach intensiven Tischdiskussionen fand eine Paneldiskussion statt, in der Vertreter aus Pflege, Politik, Industrie und Patientensicht auf die zentralen Herausforderungen des Gesundheitssystems eingingen und mögliche Lösungsansätze präsentierten. Die Moderation übernahm Dr. Esther Girsberger und führte durch eine lebendige Debatte über drängende Themen wie Fachkräftemangel, Patienten-Empowerment und Strukturreformen.
Stephan Hüsler, Geschäftsführer von Retina Suisse, betonte die Wichtigkeit der Patientenperspektive und forderte eine bessere Kommunikation zwischen Ärtzt:innen und Patient:innen:
„Mein grösster Wunsch ist, dass ich von meiner Ärztin oder meinem Arzt als gleichwertiger Partner in meiner Gesundheitsfrage betrachtet werde.“
Er hob hervor, dass der Mangel an Empathie und Kommunikation oft zu Unsicherheiten und Frustrationen bei Patienten führe. Auch Dr. Carlos Quinto, Facharzt und Vorstandsmitglied der FMH, verwies auf die Notwendigkeit ausreichender Zeit für Gespräche.
„Das Gespräch ist immer noch das günstigste Mittel im Umgang mit Patienten,“
sagte Quinto. Auch er kritisierte die übermässige Bürokratie und die damit verbundene Belastung der Fachkräfte, was letztlich die Qualität der Versorgung beeinträchtige.
Katharina Gasser, General Manager von Roche Pharma Schweiz, äusserte sich zur Wichtigkeit von Innovation und einer effizienten Zulassung neuer Medikamente. Sie zeigte sich besorgt über lange Zulassungsverfahren und die Herausforderungen eines kleinen Marktes wie der Schweiz:
„Es kann nicht sein, dass ein Gesundheitssystem wie das unsrige nicht in der Lage ist, Innovationen schnell und flächendeckend bereitzustellen.“
Zum Abschluss betonte Farah Rumy, Nationalrätin und Pflegefachfrau, die Notwendigkeit, den Nachwuchs in der Pflege gezielt zu fördern und die Hierarchien im Gesundheitswesen abzubauen, um ein gutes Arbeitsklima zu schaffen. Sie unterstrich, dass die Pflegekräfte eine wichtige Rolle spielen und als zentrale Akteure in Entscheidungsprozesse einbezogen werden sollten.
Aufbruch in eine neue Ära der Gesundheitsversorgung
Das Roche Forum 2024 hat eindrucksvoll gezeigt, dass das Schweizer Gesundheitssystem an einem entscheidenden Wendepunkt steht. Die Herausforderungen sind gewaltig: Fachkräftemangel, steigende Arbeitsbelastung und eine bislang unzureichende Digitalisierung gefährden die Stabilität eines Systems, das lange als Vorbild galt. Doch Exzellenz ist kein Selbstläufer – sie muss stetig erarbeitet und gesichert werden.
Der Abend in Basel war ein Weckruf und bot ein inspirierendes Ambiente, das den Austausch und die Diskussion zwischen medizinischem Fachpersonal, politischen Entscheidungsträger:innen, Forschenden und Patientenvertreter:innen förderte. Diese Allianz ist notwendig, um das System zukunftsfähig zu gestalten. Es geht darum, Strukturen zu schaffen, die nicht nur Krankheiten behandeln, sondern die Gesundheit als Ganzes fördern.