Der Spitalalltag konfrontiert Ärztinnen und Ärzte wie Pflegende mit schwierigen ethischen Fragestellungen – und bringt sie zuweilen in Konflikte. Wie geht die Pflegefachfrau Claudia Dollinger damit um? Wie unterstützt die Ethikerin Daniela Ritzenthaler die Teams dabei, mit ethischen Dilemmata umzugehen? Zwei Interviews.
INTERVIEW MIT DR. PHIL. DANIELA RITZENTHALER. SIE IST KLINISCHE ETHIKERIN BEI DER LINDENHOFGRUPPE.
Frau Ritzenthaler, was macht eine Medizinethikerin in der Lindenhofgruppe?
Ich moderiere Fallbesprechungen, führe Weiterbildungen durch und helfe mit, ethische Richtlinien zu erarbeiten. Die Fallbesprechungen beanspruchen am meisten Zeit.
In einem Spital treten viele ethische Fragestellungen auf. Welche sind besonders häufig?
Fragen im Zusammenhang mit Patientinnen und Patienten, die sich nicht mehr zum weiteren Therapieverlauf äussern können oder sich aufgrund kognitiver Einschränkung gegen eine Therapie wehren. Das bedeutet: Wir müssen den mutmasslichen Willen der Patientin bzw. des Patienten erörtern. Würde die Patientin oder der Patient dieser Therapie zustimmen, könnte sie bzw. er sich äussern? Rechtfertigt eine Lebensverlängerung die Belastungen und die Nebenwirkungen der Therapie? Sind, wenn sich jemand wehrt, freiheitseinschränkende Massnahmen zu verantworten?
Solche Situationen sind für Ärztinnen und Ärzte wie für Pflegende herausfordernd. Welche Unterstützung bieten Sie an?
Alle Mitarbeitenden können eine ethische Fallbesprechung beantragen. Je nach Situation nehmen daran die Pflegenden, die zuständige Ärztin bzw. der zuständige Arzt sowie weitere Fachpersonen teil – manchmal sogar die Angehörigen. Ziel ist, die Grundlage für einen fundierten Entscheid zu schaffen, um der Patientin bzw. dem Patienten gerecht zu werden und das gegenseitige Verständnis unter den Professionen zu fördern.
Wie verläuft eine solche Fallbesprechung?
Sie ist in drei Phasen unterteilt. Zuerst tauschen wir Informationen und Wahrnehmungen aus und analysieren die Situation aus medizinischer, pflegerischer, sozialer und spiritueller Sicht. Danach benennen wir den ethischen Wertekonflikt. Schliesslich diskutieren wir die Vor- und Nachteile einzelner Handlungsoptionen und gewichten diese nach ethischen Kriterien.
Wie definieren Sie Ihre Rolle in diesem Prozess?
Ich moderiere die Diskussion und stelle in meiner Funktion als Ethikerin philosophische Fragen. Zum Beispiel «Wie können wir in der konkreten Situation der Patientin bzw. dem Patienten Gutes tun?». Ethikerinnen und Ethiker sind keine Moralapostel. Sie versuchen gemeinsam mit den Behandlungsteams nachzudenken und zu verantwortungsvollen Entscheidungen zu kommen. Oft sind mehrere Handlungsoptionen ethisch vertretbar. Zentral sind die transparente Diskussion und ein gemeinsam begründeter und getragener Entscheid. Es ist nicht meine Aufgabe, den Entscheid zu fällen oder über richtig oder falsch zu urteilen.
Wie können Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter eine Fallbesprechung beantragen?
Sie können über die Abteilungsleitung gehen oder sich bei individuellen Fragen direkt an mich wenden. Meist kommt der Impuls für eine Fallbesprechung von den Pflegenden, da sie am meisten Zeit mit den Patientinnen und Patienten verbringen und so am ehesten mit Wertekonflikten konfrontiert sind. Aber selbstverständlich können sich auch Ärztinnen und Ärzte an mich wenden.
Welche Bedeutung haben ethische Fragestellungen im Medizinstudium und in der Pflegeausbildung?
Aus Sicht der Ethik ist es wichtig, dass sich beide Professionen mit Werten auseinandersetzen und im Spitalalltag Wertekonflikte erkennen können. Die moderne Medizin ermöglicht es, das Leben eines Menschen auch in extremen Situationen zu verlängern. Der Preis dafür ist nicht selten Therapie, die mit einer hohen Belastung einhergeht. Das wirft Wertefragen auf. Die Betroffenen müssen beurteilen, wie stark eine Therapie ihre Lebensqualität beeinträchtigt und ob sie das für eine Lebensverlängerung in Kauf nehmen wollen. Sind sie nicht mehr urteilsfähig, müssen die Fachpersonen diese Abwägungen vornehmen, indem sie den mutmasslichen Willen sowie die beiden Prinzipien «Gutes tun» und «Nicht schaden» berücksichtigen.
Wenn Menschen ihre Autonomie verlieren, also nicht mehr über Therapien oder lebensverlängernde Massnahmen entscheiden können: Welche Werte müssen besonders geschützt werden?
Die Würde des betroffenen Menschen muss immer respektiert werden, auch wenn dessen Wünsche nicht mehr gedeutet werden können. Das bedeutet: Er muss mit demselben Respekt behandelt werden wie urteilsfähige Patientinnen und Patienten. Was therapeutische Entscheidungen betrifft: Bis zu einem gewissen Grad können Patientenverfügungen oder Angehörige die verlorene Autonomie kompensieren. Sie wissen am ehesten, wie der betroffene Mensch in der aktuellen Situation entschieden hätte. Auch die Pflegenden können zur Entscheidungsfindung beitragen, indem sie den betroffenen Menschen genau beobachten und daraus Rückschlüsse auf seine Bedürfnisse ziehen. Wir sprechen dabei von Care-Ethik.
Wo sehen Sie in Ihrer Tätigkeit die grössten Herausforderungen?
In den Fallbesprechungen: Die Komplexität der Situationen ist meist hoch. Und wir müssen die Fragen fast immer unter Zeitdruck klären. Hinzu kommt, dass die Situationen aufwühlen. Emotionen zuzulassen und gemeinsam auszuhalten, ist Teil des Prozesses. Die Ethik argumentiert mit rationalen Argumenten und hilft, Entscheidungen durch sachliches Abwägen von ethischen Prinzipien zu strukturieren und zu treffen. Wenn Sie auf Ihre dreijährige Tätigkeit in der Lindenhofgruppe zurückblicken: Welche Entwicklung sehen Sie? Die Sensibilität für ethische Fragestellungen steigt. Entsprechend erhalte ich mehr Anfragen für Fallbesprechungen als zu Beginn. Die Rückmeldungen aus den Teams zeigen mir, dass das Gefäss dazu beiträgt, die für die Patientinnen und Patienten gute Lösung zu finden sowie die Teams fachlich zu unterstützen und zu entlasten. Das freut mich sehr.
INTERVIEW MIT CLAUDIA DOLLINGER. SIE IST DIPL. PFLEGEFACHFRAU UND PFLEGEEXPERTIN INNERE MEDIZIN AM LINDENHOFSPITAL.
Mit welchen ethisch anspruchsvollen Situationen werden Sie in der Pflege häufig konfrontiert?
Auf der Inneren Medizin behandeln wir mehrheitlich ältere Menschen, die an mehreren Krankheiten leiden, also multimorbid sind. Ins Spital kommen sie wegen eines akuten Ereignisses, auf welches die Therapie dann fokussiert. Verläuft diese ungünstig, müssen die Patientinnen und Patienten in einer ausserordentlichen Lage entscheiden, welche Therapien sie angesichts ihres allgemeinen Gesundheitszustands noch wünschen – sofern sie dazu überhaupt noch in der Lage sind. Ansonsten müssen das die Angehörigen in Absprache mit den behandelnden Ärztinnen und Ärzten tun. Da stellen sich ethisch schwierige Fragen. Wird beim Spitaleintritt nicht geklärt, was sich die Patientinnen und Patienten in einer solchen Situation wünschen? Dies geschieht noch nicht systematisch. Mehrheitlich gibt es in der Lindenhofgruppe und höchstwahrscheinlich auch in anderen Spitälern keine vorausschauende Planung, welche die Handlungsoptionen für den Notfall festhält.
Warum nicht?
Da sehe ich primär drei Gründe. Erstens: Es fehlt aufgrund der akuten Situation an Zeit. Zweitens: Die behandelnden Ärztinnen und Ärzte sprechen das Thema nicht an. Drittens: Die Patientinnen und Patienten sind noch nicht bereit, darüber zu sprechen. Wenn eine wie oben skizzierte Situation eintritt: Was können Sie aus Sicht der Pflege tun? Die Pflegefachpersonen sind nahe an den Patientinnen und Patienten und können den Verlauf der Therapie sowie die Entwicklung des Gesundheitszustands beobachten. Diese Wahrnehmung bringen wir in die Diskussion ein. Unsere Einschätzung weicht zuweilen von jener der Ärztinnen und Ärzte ab. Die Pflegefachpersonen unterstützen die Patientinnen und Patienten dabei, einen reflektierten Entscheid treffen zu können. Welchen ethischen Werten sind Sie als Pflegefachfrau verpflichtet? Nicht schaden und Gutes tun: Das ist für mich das oberste Gebot. Darüber hinaus gibt es von den Pflegeverbänden entsprechende Kodexe.
Nicht schaden und Gutes tun: Ist im Praxisalltag immer klar, was das Gute ist? Oder geraten Sie zuweilen in einen Wertekonflikt?
Es gibt Wertekonflikte. Wenn ich beispielsweise eine ärztliche Verordnung umsetzen muss, die ich aus meiner Perspektive hinterfrage und bei der ich unsicher bin, ob sie im Sinne der Patientin bzw. des Patienten ist. Das ist schwierig auszuhalten.
Können Sie einen konkreten Fall schildern?
Ein Patient hat den ärztlich verordneten Reanimationsstatus «Ja». Das bedeutet, dass er in jedem Fall reanimiert werden muss. Er erleidet einen Kreislaufzusammenbruch und kommt auf die Intensivstation. Die Chance ist gering, dass er wieder vom Beatmungsgerät wegkommt. Aber das Risiko, dass er durch die Reanimation eine starke Hirnschädigung erleidet, ist hoch. Da frage ich mich: Tue ich noch Gutes oder schade ich mehr, wenn ich den Patienten reanimiere? Und: Würde der Patient der Reanimation zustimmen, wäre er dazu noch in der Lage? Genau deshalb ist es wichtig, solche Fragen rechtzeitig zu klären.
Die Lindenhofgruppe kennt das Gefäss der ethischen Fallbesprechung. Wann ziehen Sie die klinische Ethikerin bei?
Im Pflegeteam der Inneren Medizin führen wir regelmässig Fallbesprechungen durch. Wir diskutieren über komplexe Situationen, unklare Therapieziele, unbefriedigende Verläufe usw. – teils auch unter Einbezug der Ärztinnen und Ärzte. Treten Werte fragen auf, die wir nicht selbstständig beantworten können, ziehen wir Daniela Ritzenthaler für eine ethische Fallbesprechung bei.
Wie wirken sich die ethischen Fallbesprechungen auf die interprofessionelle Zusammenarbeit aus?
Überaus positiv. Es hilft enorm, die Einschätzungen und Überlegungen aller beteiligten Fachpersonen zu hören. Das fördert das gegenseitige Verständnis und ganz allgemein die Zusammenarbeit der Berufsgruppen. Nach einer Fallbesprechung verstehe ich in der Regel besser, warum eine Ärztin oder ein Arzt diese oder jene Anweisung getroffen hat. Umgekehrt fliessen die Überlegungen der Pflege in die Überlegungen der Ärztinnen und Ärzte ein. Und was bringen Ihnen die ethischen Fallbesprechungen auf persönlicher Ebene? Erstens ist es gut zu wissen, dass ich meine Fragen anbringen kann und meine Vorbehalte gegenüber gewissen Entscheiden ernst genommen werden. Zweitens gewinne ich durch diese Fallbesprechungen Klarheit über einen zuvor diffusen Sachverhalt. Und drittens ist es entlastend, wenn man in einer sachlichen Diskussion mit den Kolleginnen und Kollegen zu einer gemeinsamen Haltung findet.