Wir verlieren wichtige Medikamente – für immer

Dass es bei Heilmitteln zu Lieferengpässen kommt, ist bekannt. Doch das Problem ist viel ernster. Zwei Beispiele.

Gastbeitrag von Enea Martinelli, 18. April 2024 um 22:00
image
Mangelware Heparin-Fertigspritzen, Autor Martinelli: Wen kann man zwingen, Pflichtlager anzulegen?
Was mich noch mehr umtreibt als die Lieferengpässe bei Medikamenten sind jene Produkte, die wir ganz verlieren. Und zwar nicht 08/15-Produkte, sondern solche, die einen wichtigen Stellenwert haben.
Diese Spirale dreht sich immer schneller. Dabei treffen die Firmen Businessentscheide – aber die therapeutische Bedeutung des Produktes spielt dabei oft keine Rolle. Zwei Beispiele:

1. Heparin Fertigspritzen

Bis Ende letzten Jahres waren in der Schweiz Fertigspritzen mit so genanntem unfraktioniertem Heparin auf dem Markt. Sowohl die Fertigspritzen mit Heparin-Natrium (Liquemin) als auch jene mit Heparin-Calcium (Calicparin) sind vom Schweizer Markt verschwunden.
Was ist geschehen? Heparin-Fertigspritzen werden zur Prophylaxe venöser thromboembolischer Ereignisse in der Abdominal- und orthopädischen Chirurgie, zur Gerinnungsprophylaxe im extrakorporalen Kreislauf bei der Hämodialyse, bei instabiler Angina pectoris und Nicht-Q-WellenHerzinfarkt in Kombination mit Aspirin sowie zur Behandlung der tiefen Venenthrombose eingesetzt.
  • Enea Martinelli ist Chefapotheker bei der Spitäler FMI AG und Vizepräsident von Pharmasuisse. Dieser Beitrag erschien erstmals auf seinem Blog.
Natürlich gibt es auch fraktioniertes Heparin, mit dem diese Prophylaxe in den meisten Fällen noch verbessert werden kann. Und es gibt auch Tabletten mit sogenannten NOAK’s, mit denen das ebenfalls gelingen kann. Deshalb wurde der Kreis der Menschen, die mit unfraktioniertem Heparin behandelt werden müssen, in den letzten Jahren immer kleiner.
Das heisst aber nicht, dass unfraktioniertes Heparin obsolet wurde, denn die neueren Präparate haben einen Schönheitsfehler: Für Patientinnen und Patienten mit sehr schlecht funktionierenden Nieren sind sie nicht geeignet. Entweder gibt es dafür keine Zulassung oder sie sind kontraindiziert.
Stellen Sie sich also folgende Situation vor: Ein Patient mit einer schlechten Nierenfunktion wird für eine grössere orthopädische Operation ins Krankenhaus eingeliefert. Nach den Regeln der Kunst ist eine Thromboseprophylaxe mit 5000 Einheiten zweimal täglich subkutan für 6 Wochen nach der Operation erforderlich. Bisher wurde dies einfach mit Liquemin oder Calciparin Fertigspritzen mit je 5000 Einheiten zu 0,25 bzw. 0,2 ml durchgeführt.
Diese Präparate sind in der Schweiz nicht mehr erhältlich. Was ist nun zu tun?
Heparin ist weiterhin in der Form 25’000 Einheiten / 5 ml zugelassen.  Nur diese Form wird von den Krankenkassen bezahlt.
«Täglich 7.80 Franken, davon 4.70 Franken im Eimer entsorgt. Wird auch so bezahlt. Es gibt intelligentere Ansätze. Aber dafür ist unser System nicht geeignet.»
Stellen Sie sich nun eine ältere Person vor, die selbstständig handeln soll, das heisst: Zweimal täglich 1 ml aus einer Flasche steril aufziehen und dann subkutan spritzen. 1 ml subcutan ist an sich schon eine Zumutung. Es sind auch keine Durchstechflaschen mehr wie früher, sondern Glasampullen. Das bedeutet, dass eine Weiterverwendung über 24 Stunden hinaus kaum möglich ist. Die Infektionsgefahr steigt.
Aus Sicht der Krankenkassen ist alles in Ordnung, wenn die Patienten das selbst können. Wird auch so bezahlt – täglich 7.80 Franken, davon 4.70 Franken im Eimer entsorgt; mit erheblichem Risiko der Fehldosierung; mit entweder erhöhtem Blutungsrisiko oder fehlender Prophylaxe mit nachfolgender Thrombose. Es gibt intelligentere Ansätze, aber dafür ist unser System nicht geeignet.

Jeder muss selber importieren

In Frankreich und Italien sind Calciparin-Fertigspritzen noch erhältlich. In Deutschland sind Heparin-Natrium Fertigspritzen zugelassen.
So weit, so gut?
Die Konsequenz ist, dass die Leistungserbringer die Produkthaftung übernehmen und die Pharmakovigilanz international sicherstellen müssen (zum Beispiel bei Chargenrückrufen im Ausland). Jeder einzelne Leistungserbringer muss die Spritzen selber importieren. Ein zentraler Import ist nicht möglich (da Handel mit Produkten, die in der Schweiz nicht zugelassen sind).
Und schliesslich müssten die Spritzen auch noch bezahlt werden.
Da diese in der Schweiz eben nicht zugelassen sind, besteht grundsätzlich keine Leistungspflicht der Krankenkassen. In der Folge braucht es eine Kostengutsprache der Krankenkasse.
«Wenn es in der Schweiz keine Zulassungsinhaberin gibt, dann kann das Bundesamt für wirtschaftliche Landesversorgung auch nichts machen.»
Man könnte zwar argumentieren, dass es sich um eine «Versorgungslücke» handelt und die Kosten aufgrund eines Rundschreibens des BAG vom Januar 2023 an sich übernommen werden müssten. Dies führt jedoch oft zu einer intensiven Korrespondenz mit der jeweiligen Krankenkasse und mit verschiedenen Stellen (Spital, Hausarzt, Apotheke etc.), um diesen Umstand darzulegen. Einfacher wäre es, dies über eine Kostengutsprache zu regeln. Diese gibt es aber nicht einfach so, sondern nur mit einer ausführlichen Begründung und dem Risiko einer Ablehnung. Und schliesslich darf der Patient das Spital erst verlassen, wenn die Kostengutsprache vorliegt.

«Jä nu, isch halt eso»

Wer ist nun dafür verantwortlich, dass wir in der Schweiz solche Spritzen auf dem Markt haben? Natürlich in erster Linie die Industrie. Aber die will nicht anders, aus welchen Gründen auch immer. Und nun?
«Wir» kapitulieren und lassen es geschehen. Oder wir haben einen konkreten Massnahmenplan, was wir in solchen Situationen tun. Dazu müssten «wir» erst einmal feststellen, dass diese Darreichungsform wichtig und unverzichtbar ist.
Und wer stellt das fest? Und was machen wir dann damit?
Heparin ist eine Substanz, die auf der Liste der unentbehrlichen Arzneimittel des Bundesamtes für wirtschaftliche Landesversorgung steht. Aber eben: Wenn es in der Schweiz keine Zulassungsinhaberin für diese spezielle Anwendungsform gibt, dann kann das BWL auch nichts machen. Es gibt niemanden, den es zwingen könnte, Pflichtlager anzulegen, und auch niemanden, der allenfalls eine Busse bezahlen müsste, wenn das Medikament nicht verfügbar wäre.
Dann kapituliert man halt: «Jä nu, isch halt eso». Man überlässt es «dem Markt» beziehungsweise schiebt den Ball den Leistungserbringern zu. Die sollen sich darum kümmern.
Wollen wir ein solches System oder gibt es bessere Ansätze und wer definiert diese? Man könnte solche Fertigspritzen auch öffentlich ausschreiben. Aber wer macht das eigentlich? Gehen die gut finanzierten Krankenhäuser dieses Risiko ein?
Oder ist es eine Frage der öffentlichen Gesundheit, wenn sich niemand findet?

2. Suxamethonium (Succinylcholin)

Suxamethonium steht auf der Liste der lebenswichtigen Arzneimittel des Bundesamtes für wirtschaftliche Landesversorgung. Das heisst, es fällt unter die dort festgelegte Definition von «lebensnotwendig».
Das ist gut so.
Nur: Suxamethonium wurde in den letzten Jahren immer weniger benötigt. Deshalb gibt es weltweit nur noch wenige Anbieter von Ampullen. Verwendet wird es aber immer noch.
Wegen des sehr schnellen Wirkungseintritts und der kurzen Wirkungsdauer wird es vor allem bei Notfallnarkosen zur Blitzeinleitung verwendet. 
Dem Schweizer Hersteller der fertigen Ampullen wurde nun die Zulassung zur Produktion sistiert. Die Ampullen sind in der Schweiz nicht mehr erhältlich. Die zuvor hergestellten Ampullen sind ausverkauft. Eine Produktion findet derzeit nicht statt.
«Die Firmen dürfen die Produkte nicht in der Schweiz lagern, da sie keine Zulassung haben. Sie müssen über eine ausländische 'Filiale' ausweichen oder ein Zollfreilager nutzen.»
Das BWL kann nichts (mehr) unternehmen, da es keinen Zulassungsinhaber in der Schweiz gibt. Deshalb wird auf der Liste des BWL auch kein Lieferengpass gemeldet.
Auch hier: Das Medikament ist unentbehrlich. Jedes Spital muss das Medikament nun selber importieren. Dies kann zwar über spezialisierte Firmen wie Farmamondo oder Tecrapharm organisiert werden.
Dennoch: Die primäre Produkthaftung liegt beim Krankenhaus beziehungsweise beim Anwender. Die genannten Firmen dürfen die Produkte nicht in der Schweiz lagern, da sie keine Zulassung haben. Sie müssen über eine ausländische «Filiale» ausweichen oder ein Zollfreilager nutzen. Oder jedes Spital importiert selber.
Die Listung beim BWL wird zur reinen Farce, das Zulassungssystem wird ad absurdum geführt.

Und wer hat jetzt den Lead?

Die Kassenpflicht ist hier nicht das Problem, da die Ampullen entweder stationär über Fallpauschalen finanziert werden oder dann Teil des Behandlungskomplexes sind. Es handelt sich um Einmalanwendungen, so dass die Kosten an sich nicht der heikle Punkt sind.
Auch hier: Wir kapitulieren vor dem System und überlassen die Organisation den Leistungserbringern.
Und wer hat jetzt den Lead, dieses anerkannt wichtige Medikament in der Schweiz so verfügbar zu machen, dass die Haftungsfragen klar geregelt sind? Wer schaut, dass die Zulassung übertragen wird an jemanden, der das herstellen will? Oder nehmen wir hin, dass wir nach Abregistrierung bis zu drei Jahre warten, bis jemand die ganze Tour durch die Zulassung gemacht hat (so dann jemand gefunden wird)?
Niemand oder alle es bitzeli: So funktioniert’s eben nicht. Es braucht Führung im System. Deshalb braucht es Ihre Unterschrift unter die Versorgungsinitiative.
  • medikamente
  • pharma
  • apotheken
  • Enea Martinelli
  • Gastbeitrag
Artikel teilen

Loading

Kommentar

Mehr zum Thema

image

Bürokratie-Fiasko beim Zugang zu Medikamenten

Eine internationale Studie zeigt: Bürokratie ist in der Schweizer Gesundheitsversorgung ein grosses Problem. Gleichzeitig erschweren veraltete Prozesse den Zugang zu innovativen Medikamenten. Lösungen lägen auf dem Tisch – doch die Politik droht, die Situation noch zu verschlimmern.

image

EU gibt Novartis grünes Licht für Kisquali gegen Brustkrebs im Frühstadium

Der Wirkstoff Ribociclib soll insbesondere Patientinnen helfen, bei denen das Risiko besteht, dass sie einen Rückfall erleiden.

image

Antibiotika-Therapie: In Praxen und Kliniken immer noch suboptimal

In Baden-Württemberg erforschte man den Antibiotika-Einsatz in zehn Spitälern. Heraus kam ein halbes Dutzend heikler Punkte.

image

In Bern steht die Selbstdispensation wieder zur Debatte

Der jahrelange Konflikt zwischen Apothekern und Ärzten könnte in eine neue Runde gehen: Eine kantonale Motion fordert, dass künftig alle Arztpraxen Medikamente verkaufen dürfen.

image

Impfen in der Apotheke: Auch in Zürich wird mehr möglich

Damit erlauben bald acht Kantone alle Impfplan-Impfungen durch Apotheker.

image

J&J im Zeichen der Männergesundheit

Inselspital, USZ, CHUV, LUKS, Hirslanden, KSGR: Johnson & Johnson startet die «Prostate Tour de Suisse» in sieben Schweizer Spitälern.