Medikamentenengpässe: Europa handelt – und die Schweiz?

Versorgungslücken bei Arzneimitteln häufen sich. Die EU reagiert. Es wäre naiv zu glauben, dass die EU im Ernstfall die Schweiz einfach mitversorgt.

Gastbeitrag von Enea Martinelli, 14. März 2025 um 23:00
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«Ein Produktionsausfall kann binnen Stunden eine Versorgungskrise auslösen»: Autor Enea Martinelli.
Frankreich reagierte alarmiert, als Sanofi ankündigte, mindestens 50 Prozent seiner Tochtergesellschaft Opella an den US-Investmentfonds Clayton, Dubilier & Rice zu verkaufen. Opella produziert unter anderem Doliprane®, das französische Pendant zu Dafalgan® – ein Medikament, das in Frankreich in nahezu jedem Haushalt zu finden ist. Die französische Regierung sah die nationale Souveränität der Medikamentenproduktion in Gefahr.
Wirtschaftsminister Antoine Armand setzte durch, dass der französische Staat über die staatliche Förderbank Bpifrance als Minderheitsaktionär einsteigt und verlangte Liefergarantien. Zusätzlich wurden im Verkaufsvertrag empfindliche Strafzahlungen vereinbart: 40 Millionen Euro, falls die Produktion verlagert wird, und 100'000 Euro pro gestrichener Stelle aus wirtschaftlichen Gründen.
  • Enea Martinelli ist Chefapotheker bei der Spitäler FMI AG und Vizepräsident von Pharmasuisse.
Noch drastischere Auswirkungen hatte der Hurrikan Helene, der Ende September 2024 Teile der US-Ostküste verwüstete. Besonders hart getroffen wurde ein Werk von Baxter in Marion, North Carolina, das Infusionslösungen, Ampullen und Dialyseflüssigkeiten herstellt – essenzielle Produkte für Krankenhäuser.
Schon vor dem Sturm war die Versorgung mit intravenösen Lösungen für Kinder kritisch, nun verschärfte sich die Lage dramatisch. Zahlreiche Operationen mussten verschoben werden, um einen Zusammenbruch der Notfallversorgung zu verhindern. In einer beispiellosen Aktion wurden mehr als 200 Jumbo-Jets mit Infusionslösungen aus Europa und Asien in die USA geschickt.
«Das Fehlen lebenswichtiger Arzneimittel könnte Spitäler binnen Stunden in eine Krise stürzen.»
Kurz darauf, am 10. Oktober 2024, berichtete AP News, dass ein weiteres Werk in Daytona nur knapp den Zerstörungen durch Hurrikan Milton entging. Zur gleichen Zeit meldete das «Deutsche Ärzteblatt», dass in deutschen Krankenhäusern ein Mangel an Kochsalzlösungen herrscht.
Ein direkter Zusammenhang ist unklar, doch die Kette an Ereignissen zeigt, wie fragil die Medikamentenversorgung weltweit ist.

Keine Morphin-Ampullen

Auch in der Schweiz bleiben Engpässe nicht aus. Sintetica, ein Hersteller von Schmerzmitteln, wurde 2019 an den französischen Private-Equity-Fonds Ardian verkauft. Die Expansion in die USA verlief offenbar nicht wie geplant, sodass das Unternehmen Anfang dieses Jahres 55 Stellen abbauen musste – 40 davon am Standort Couvet (NE) und 15 im Tessin. Wenig später folgte die nächste Hiobsbotschaft: Wegen Rohstoffproblemen kann Sintetica bis Juli 2025 keine Morphin-Ampullen liefern.
«Medikamentenengpässe sind keine Randerscheinung mehr, sondern eine realistische Gefahr für die Gesundheitsversorgung.»
Das Bundesamt für wirtschaftliche Landesversorgung musste kurzfristig mit der Streuli Pharma in Uznach eine Übergangslösung organisieren. Doch diese wichtige Information erreichte die Krankenhäuser erst im März. Was wäre passiert, wenn keine Lösung gefunden worden wäre?
Diese Fälle zeigen: Medikamentenengpässe sind keine Randerscheinung mehr, sondern eine realistische Gefahr für die Gesundheitsversorgung. Besonders betroffen sind Infusionen, Ampullen und Schmerzmittel – sie sind für die Akutmedizin unverzichtbar. Ein Produktionsausfall kann binnen Stunden eine Versorgungskrise auslösen.
«Kritische Medikamente sind Infrastruktur – genauso essenziell wie Energie oder Wasser.»
Elf EU-Gesundheitsminister reagierten und forderten am 9. März 2025, den 800-Milliarden-Euro-Verteidigungsfonds auch für die Sicherung kritischer Arzneimittel einzusetzen.
Zwei Tage später legte die EU-Kommission eine neue Verordnung vor, die folgende Massnahmen vorsieht:
  • Ausbau der Produktionskapazitäten für kritische Medikamente in der EU
  • Finanzielle Förderung für strategische Industrieprojekte
  • Diversifizierung der Lieferketten durch internationale Partnerschaften
  • Gemeinsame Beschaffung wichtiger Medikamente durch mehrere Mitgliedstaaten
  • Vergabekriterien, die die EU-Produktion stärken und Abhängigkeiten reduzieren

«Der Ernstfall hätte dramatische Folgen»

Während Europa die Versorgung absichert, tut sich die Schweiz mit einer vorausschauenden Strategie schwer. Industriepolitik? Ein Tabu.
Doch was passiert, wenn ein Medikamentenengpass auftritt und wir keine Alternativen haben? Kritische Medikamente sind Infrastruktur – genauso essenziell wie Energie oder Wasser.
Das Fehlen lebenswichtiger Arzneimittel könnte Spitäler binnen Stunden in eine Krise stürzen.
Wenn dann gleichzeitig Epileptiker ohne Medikamente, Herzpatienten ohne Präparate, schizophrene Patienten ohne Behandlung auch noch erscheinen, dann hätte der Ernstfall dramatische Folgen. Viele dieser Medikamente finden sich nicht auf der Liste der lebensnotwendigen Arzneimittel des Bundesamtes für wirtschaftliche Landesversorgung.
Es ist naiv zu glauben, dass die EU im Ernstfall die Schweiz einfach mitversorgt. Gerade bei den essenziellen Medikamenten haben wir kaum Verhandlungsmacht, da wir selbst wenig zur Versorgung unserer Nachbarn beitragen können.

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