In den USA gab es in den letzten Jahren einige Fälle, in denen Ärzte zu jahrzehntelangen Zuchthausstrafen verurteilt wurden – zum Beispiel, weil sie absichtlich falsche Diagnosen gestellt hatten, um höhere Einkommen zu erzielen.
Dieser Fall sprengt aber den bisherigen Rahmen von Schuldhaftigkeit und Strafmass – zumal klassische Betrugsabsichten hier gar nicht im Vordergrund standen: In Los Angeles wurde eine Allgemeinmedizinerin zu 30 Jahren Gefängnis verurteilt, weil sie allzu grund- und sorglos rezeptpflichtige Medikamente verschrieben hatte.
Opioide, Analgetika, Angstbekämpfer
Die Verurteilte, Hsiu-Ying «Lisa» Tseng, war von einer Jury des mehrfachen Totschlags für schuldig befunden worden, weil ihre Patienten durch ihre Rezepte allzu einfach an Opioide wie Oxycodon, Analgetika wie Vicodin, Angstbekämpfer wie Alprazolam oder Muskelrelaxantien wie Carisoprodol gelangt waren. Die Mittel hätten in drei Fällen zum Tod der Patienten geführt, erkannte das Gericht.
Amerikanische Experten äusserten sogleich die Vermutung, dass das drakonische Urteil die Art verändern könnte, wie die Mediziner künftig ihre Rezepte ausstellen.
Ursprünglich hatte die Staatsanwaltschaft der 46jährigen Medizinerin zwölf Opfer anlasten wollen. Doch in den meisten verdächtigen Fällen spielten andere Faktoren hinein – darunter Rezepte anderer Ärzte –, so dass Dr. Tsengs ursächliche Schuld hier nicht nachgewiesen werden konnte.
«Verbrechen im weissen Kittel»
Der heikle Punkt war offenbar, dass die besagten Rezepte an Patienten mit Neigung zum Drogenmissbrauch gingen – und dass, so jetzt der Richter, die Ärztin dies hätte erkennen und ihre Konsequenzen daraus ziehen müssen. Dass sie innert drei Jahren gut 27'000 Rezepte ausgestellt hatte, galt als Signal, dass sie ihre Verantwortung sträflich vernachlässigt hatte.
«Du kannst dich nicht hinter einem weissen Kittel verstecken und Verbrechen begehen», sagte der federführende Staatsanwalt John Niedermann: «Dass man jemandem ein Rezept ausstellt, von dem man weiss, dass er es missbrauchen wird und potentiell daran sterben kann, dies entspricht vollständig der Theorie eines Mordes mit bedingtem Vorsatz (second-degree murder).»
«Crazy, outrageous»
Die Hausärztin respektive ihre Anwältin hatten andererseits vorgebracht, dass Tseng lediglich naiv gewesen sei und nicht in Betracht gezogen habe, dass ihre Patienten die Medikamente missbrauchen würden: Die Patienten hätten ihre Medikamenten-Abhängigkeiten verborgen und Tseng habe geglaubt, ihnen im Kampf gegen Schmerzen beistehen zu können.
Das Bild, das die Staatsanwaltschaft zeichnete und das sich bei der Jury und dann beim Richter durchsetzte, war jedoch ein anderes. Niedermann sprach von «verrückten, ungeheuerlichen Mengen» von Schmerzmitteln, die bei Tseng über den Tisch gegangen seien. Die Ermittler hatten unter anderem Undercover-Agenten eingesetzt, um herauszufinden, wie leicht ein Rezept erhältlich war.
«Könnte mir das auch passieren?»
Der Fall wurde in zahlreichen Medienberichten der USA als
«landmark case» bezeichnet, als Markstein. Gegenüber dem Fernsehsender
ABC sagte der Präsident der American Academy of Pain Medicine, Bill McCarberg: «Verschreibende sehen das und fragen sich – und das frage ich mich selber –: „Was hat sie Falsches getan? Und könnte das mir auch passieren?“»
Die Folge sei, so die Befürchtung des Neurologen, dass nun Menschen mit ernsthaften Leiden die notwendigen Schmerzmittel vorenthalten werden.
Es scheint klar, dass das Gerangel um die Verschreibungs-Verantwortung der Ärzte nun fortsetzen wird. Und dass die Grenzen neu vermessen werden. Im Gefolge der Ermittlungen gründete die Mutter eines der verstorbenen Patienten von Dr. Tseng eine
«National Coalition Against Prescription Drug Abuse» – einen Verband, der Mediziner stärker haftbar machen will für ihre Rezepte und deren Nebenwirkungen.
Der Beitrag von CBS zum Urteil der Jury: