Bereits zu Beginn der Pandemie, im März 2020, schrieb Manuel Melguizo Grahmann auf Facebook: «Die Wirtschaftskrise, die aus dieser ‹Corona-Situation› resultiert, wird unglaublich viele Einzelschicksale nach sich ziehen, an deren Ende es deutlich mehr ‹Verluste› geben wird. Wer übernimmt hierfür die Verantwortung?» Der ganze Post zählt rund 4600 Zeichen. Es sind die Worte eines besorgten Allgemeinmediziners aus Luzern, in dem sich seit Ausbruch von Covid-19 vor allem ein Gefühl breitmacht: Enttäuschung.
Er sei enttäuscht – von den Medien, von der Politik und ein Stück weit auch von der Gesellschaft, die sich in zwei Lager spalten lasse, welche sich gegenseitig attackierten, sagt der 50-jährige Arzt. Am Anfang der Pandemie sei sein Aktivismus grösser gewesen, erzählt er. So hat er sich etwa zusammen mit Andreas Heisler und drei anderen Hausärzten aus der Zentralschweiz
in einem offenen Brief vom 8. April 2020 an Bundesrat Alain Berset gerichtet. Gemäss Grahmann wurde das Schreiben nie beantwortet. Auch darüber ist er enttäuscht.
Grahmann, der aus Hannover kommt und spanische Wurzeln hat, studierte und promovierte an der Medizinischen Fakultät der Universität Köln. Der qualifizierte Rettungsmediziner hat den Facharzttitel für Allgemeinmedizin der Ärztekammer Hamburg und den Fähigkeitsausweis Sportmedizin sowie den Fähigkeitsausweis Manuelle Medizin. Grahmann ist Mitgründer der Medicum Wesemlin AG, die ein Zentrum für ambulante Medizin betreibt; dort arbeitet er als Leitender Arzt mit Hausärzten, Kinderärzten sowie Spezialisten zusammen. Das Ärztezentrum befindet sich im historischen Umfeld des Kapuzinerklosters auf dem Wesemlin-Hügel in Luzern.
«Die IPS war alles andere als überlastet»
«Die Kollateralschäden der politischen Massnahmen aufgrund der Corona-Krise sind massiv – ich werde jeden Tag damit konfrontiert.» Der 50-jährige Arzt erzählt vom verzweifelten Gastronomen, der nicht mehr ein und aus weiss. Von der Mutter, die sich um die Entwicklung ihres Kindes Sorgen macht. Vom jungen Mann, der sich nur aus Angst impfen lässt, da er befürchtet, sonst gewisse Dinge nicht mehr tun zu können. Ängste und Panikstörungen seien ein grosses Thema, sagt der Allgemeinmediziner. Die Kinder- und Jugendpsychiatrien seien überfüllt, davon habe er sich selbst ein Bild gemacht.
Auch von der Intensivstation des Luzerner Kantonsspitals (Luks) hat sich Grahmann einen Überblick verschafft: «Die IPS war alles andere als überlastet», sagt der Hausarzt, der im Luks Notfalldienste macht. Vor 20 Jahren, als er noch als Assistenzarzt auf der Intensivstation im Kantonsspital Baden gearbeitet habe, sei er von seinem Chefarzt auf Patientensuche losgeschickt worden, wenn die Abteilung nicht zu 100 Prozent ausgelastet gewesen sei – «heutzutage ist eine 90-prozentige IPS-Auslastung auf einmal ein Problem».
Grahmann berichtet von 100-jährigen Patienten in Altersheimen mit Sars-CoV-2-Infektionen, die laut ihm überlebt haben. Von rund 500 positiv getesteten Patienten des Medicum Wesemlin hätten lediglich drei schwere Verläufe mit Intensivpflicht gehabt, direkt an Corona verstorben sei keiner. Der Arzt fragt: «Weshalb darf man mit 85 Jahren eigentlich nicht an Corona sterben – aber an einem Herzinfarkt, Schlaganfall oder an Lungenkrebs schon?» In vielen europäischen Ländern liege die durchschnittliche Lebenserwartung unter dem Durchschnittsalter der an oder mit Corona Verstorbenen, solche einsehbaren Fakten liessen sich nicht leugnen. Ebenfalls nicht abstreiten könne man, dass der PCR-Test für die Diagnostik einer Corona-Infektion gänzlich ungeeignet sei, was die Weltgesundheitsorganisation schon seit langem bekannt gegeben habe. «Ein so sensibler Test, der die Fragmente eines Virus nachweist und von dem der Inzidenzwert massgeblich abhängt, ist für mich ein Skandal.»
Politik und Medien kommen nicht gut weg
Grahmann sieht sich als Corona-Relativierer und Massnahmenkritiker – Verschwörungstheorien lehne er entschieden ab. «Die Gefährlichkeit von Sars-CoV-2 bestreite ich nicht, hinter dem unnötigen Alarmismus der Experten kann ich hingegen nicht stehen.» Denn dieser sei unverantwortlich und vor allem unverhältnismässig. «Wir Ärzte haben ein Berufsethos und den hippokratischen Eid; wir haben geschworen, dass wir alles zum Wohle der Menschen tun werden. All jene, die Alarmismus, Angst- und Panikmache betreiben, verstossen gegen diesen Eid.»
Der 50-Jährige übt viel Kritik an der Corona-Politik. Natürlich gäbe es immer aus vielerlei Blickwinkeln mehrere Wahrheiten, aber man müsse sich dieser Blickwinkel eben auch bedienen. «Das ist praktisch weltweit unterlassen worden – die Politik hat grösstenteils versagt.» Grahmann macht auf die Forderungen der Schweizerischen Vereinigung «Aletheia – Medizin und Wissenschaft für Verhältnismässigkeit», zu deren Unterstützer er gehört, aufmerksam. Diese fordere eine ausgewogenere Expertenkommission und eine Untersuchung, wie die Politik zu solchen Ergebnissen und letztendlich zu den Massnahmen gekommen sei.
Es ärgert Grahmann, «dass die praktisch tätigen Ärzte aussen vor gelassen, die Virologen sowie Epidemiologen in der Taskforce aber in den Vordergrund gestellt werden». Diese Experten seien nie klinisch tätig gewesen. Als Arzt habe er 20 Influenza-Pandemien mitgemacht; das seien Erfahrungswerte, die den Virologen, Epidemiologen und Politikern fehlten – «meine Expertise ist die Empirie».
Grahmann kritisiert ausserdem die Medien, die in seinen Augen viel Macht besitzen: «Die Pandemie empfinde ich als mediendynamisierten Prozess, der die Politik vor sich hertreibt.» Noch nie zuvor habe er auf den Titelseiten der Zeitungen Bilder von einzelnen Menschen auf Intensivstationen, mit Beatmungsschläuchen im Mund, gesehen. «Und dann gab es da noch diese Fotos von den Kühlwagen in New York…Stellen Sie sich mal vor: Was denkt wohl ein Kind, das am Kiosk vorbeigeht und diese Bilder sieht? Ich frage mich schon: ‹Wo bleibt das Verantwortungsbewusstsein der Medien gegenüber der Gesellschaft? Wie können Journalisten solche Bilder und auch die alarmierenden Berichte verantworten, die so viel Schaden anrichten?›» Grahmann wird emotional: «Ich muss aufpassen, dass ich mich nicht hineinsteigere.» Und wieder fällt das Wort «enttäuscht».
Als Mediziner könne er über den Tellerrand hinausschauen
Im Vorfeld dieses Gesprächs schrieb Grahmann in einer E-Mail: «Es geht mir darum, dass ich in keinem Fall auf Effekthascherei aus bin, und ich mich mit den ‹Star-Experten› medial gleichschalten möchte.» Ihm gehe es um seine Meinung und seine Erfahrung als Arzt, der seit über 20 Jahren praktisch tätig sei. Während des Gesprächs dann sagt er, diesem Interview habe er ausschliesslich zugesagt, weil er seine Enttäuschung aufarbeiten wolle. Auch seine Posts auf Facebook schreibe er primär aus demselben Grund – «meine Reichweite ist ja nicht gross». Grahmann macht auf der Plattform auch regelmässig auf Artikel und Videos zum Thema Coronavirus aufmerksam oder kommentiert diese. Die Bandbreite seiner Medienverweise ist gross: Da sind etwa Beiträge der NZZ, des Spiegels, diverser Regionalzeitungen, des Journalisten Boris Reitschuster, des ZDF oder des Senders RT dabei. Es sind vorwiegend Artikel und Videos, in denen die Corona-Politik infrage gestellt und kritisiert wird.
Er glaube nicht, dass er sich mit seinen Ansichten in eine Filterblase begebe und dadurch den Blick nach Aussen verliere. Denn als Mediziner, der schon zahlreiche Corona-Erkrankte gesehen und betreut habe, könne er über den Tellerrand hinausschauen und Fakten gut trennen sowie filtern – «Politiker und Journalisten haben damit mehr Mühe». Als Mediziner wisse er auch, dass es für jede Studie eine Gegenstudie gäbe.
Seine Patienten versucht er, «nicht zu beeinflussen, sondern aufzuklären, mit Argumenten, was das Virus, die Erkrankung und die Covid-19-Impfung angeht». Eigentlich sei er ein Impfbefürworter, sagt der 50-Jährige, was die Covid-19-Impfung betrifft, sei er hingegen etwas skeptisch. Grahmann erinnert sich an die Schweinegrippe vor zwölf Jahren: «Damals mussten viele Impfdosen vernichtet werden – davon spricht heute fast niemand mehr.» Im nordrhein-westfälischen Pulheim, wo er alle zwei Wochen hinfahre – Grahmann führt dort seit 2003 zusätzlich eine Praxis –, habe er immer noch mit zwei Patienten Kontakt, die nach der Schweinegrippe-Impfung an Narkolepsie erkrankt seien.
«Wir sind eine Herde»
Wie wird sich die Pandemie noch entwickeln? «Das Coronavirus wird sich bald biologisch relativieren – nicht wegen der Impfung, sondern wegen der normalen Biologie des Virus», davon ist Grahmann überzeugt. Sars-CoV-2 werde immer unter uns bleiben, also endemisch werden, aber keine grosse epidemiologische Rolle mehr spielen. «Genauso wie viele andere Coronaviren, die wir in uns tragen und die seit Jahrzehnten bekannt sind.» Dennoch mache er sich Sorgen. Er habe Angst, dass man sich nicht mehr die Hände gibt, nicht mehr umarmt: «Abstand halten, Isolation, Alleinsein – das ist nicht die Biologie des Menschen. Wir sind für die Gemeinschaft geschaffen, wir sind eine Herde.»
Den eingangs erwähnten Post auf Facebook, den Grahmann im März 2020 veröffentlichte, endet mit den Worten: «So schliesse ich mit einem Verweis auf die Bibel, in der Hiob, trotz immer wiederkehrender, böser Nachrichten Gottvertrauen gezeigt hat und am Ende belohnt wurde!»
Artikelserie
Unaufdringlich, direkt, rebellisch – so verschieden sie auch sind, eines eint sie: Sie schwimmen gegen den Strom. Medinside porträtiert drei Ärzte, deren Ansichten zu Corona von der gängigen, standespolitischen Meinung abweichen. Sie erzählen, wie sie zu ihren Ansichten kommen, was sie in diesen aussergewöhnlichen Zeiten bewegt, und werfen relevante Fragen auf.
Ergänzung Luzerner Kantonsspital vom 18. Mai 2021:
Das Luzerner Kantonsspital (Luks) legt Wert auf folgende Feststellungen: Dr. med. Manuel Grahmann leistet als Hausarzt in der «24notfallpraxis» des Luks seinen gesetzlich vorgeschriebenen Notfalldienst. Im Rahmen dieser Tätigkeit ist er weder auf unseren Covid-19-Stationen noch auf der Intensivstation tätig. Unser Gesundheitspersonal auf den Covid-19-Abteilungen ist aufgrund der pandemiebedingten Zusatzbelastung seit längerer Zeit stark gefordert und arbeitete im Verlauf der Pandemie während mehreren Wochen an den Belastungsgrenzen.