Psychopharmaka in der Schweiz: Deutlich mehr ADHS-Medikamente

Wie hat sich die Menge der bezogenen Psychopharmaka zwischen 2017 und 2020 entwickelt? Dazu hat das Schweizerische Gesundheitsobservatorium (Obsan) einen umfassenden Bericht veröffentlicht.

, 18. März 2022 um 11:10
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Sie gehören zu den Medikamenten, die hierzulande am häufigsten bezogen werden. Sowohl in der Gesellschaft als auch in der Wissenschaft werden sie kontrovers diskutiert. Sie können Fluch und Segen sein.
Psychopharmaka können die Lebensqualität und die Funktionalität im Alltag und im Berufsleben verbessern. Sie können aber auch zu Nebenwirkungen führen – Betroffene klagen etwa über emotionale Abstumpfung oder über eine deutliche Gewichtszunahme. Inwiefern bestimmte Psychopharmaka abhängig machen oder tatsächlich wirksam sind (z.B. Antidepressiva), wird von Wissenschaftlern unterschiedlich diskutiert.

Das hat das Obsan untersucht

Wie viele Psychopharmaka werden in der Schweiz bezogen? Wie hat sich die Menge zwischen 2017 und 2020 entwickelt? Und: Wer bezieht die Psychopharmaka? Diesen und weiteren Fragen widmete sich das Schweizerische Gesundheitsobservatorium (Obsan) in einem Bulletin, welches gestern erschienen ist. Die Datenbasis bilden gesamtschweizerische Versichererdaten für den ambulanten Versorgungsbereich (ohne den Leistungserbringer «Spital ambulant»).
Der Fokus im Obsan-Bericht wurde auf Antidepressiva, Antipsychotika, Anxiolytika/Sedativa und auf Medikamente zur Behandlung der Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) gelegt. 

Antidepressiva an der Spitze

Die Untersuchung zeigt: Psychopharmaka machten im Jahr 2020 – wie in den Vorjahren – fast einen Viertel (22,7 Prozent) aller im ambulanten Bereich bezogenen Medikamentenpackungen aus, die durch die obligatorische Krankenpflegeversicherung vergütet wurden. 
Antidepressiva wurden am häufigsten bezogen. Im Jahr 2020 waren es rund 197 Millionen definierte Tagesdosen (defined daily dose, DDD) – 2017 waren es 192 Millionen. Die Menge der bezogenen Antidepressiva veränderte sich zwischen 2017 und 2020 also nicht gross. Auch zwischen 2019 und 2020 zeigte sich keine auffällige Veränderung (+ 0,9 Prozent). Denn die tendenzielle Zunahme im Jahr 2020 während der Covid-19-Pandemie habe in einem ähnlichen Rahmen wie bereits 2019 (+1,5 Prozent) gelegen, steht in der Publikation. 
Interessant: Frauen konsumieren generell mehr Antidepressiva als Männer. Während der Verbrauch bei jungen Patienten gestiegen ist, ist dieser bei älteren Patienten zurückgegangen (s. Grafik).
So liegt die Zunahme bei den unter 18-Jährigen zwischen 2017 und 2020 bei 48 Prozent; bei den 18- bis 25-Jährigen ist die Zunahme mit rund 23 Prozent etwas geringer. Diese Entwicklung scheine mit der Zunahme psychiatrisch-psychotherapeutischer Behandlungen von Kindern und Jugendlichen einherzugehen, die vor dem Hintergrund einer psychiatrisch-psychotherapeutischen Unterversorgung dieser Bevölkerungsgruppe allgemein zu begrüssen sei, heisst es im Obsan-Bericht.
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Quelle: SASIS AG – Medicube /Analysen Obsan; BAG – Spezialitätenliste (SL)/Analysen Obsan.

Angstlösende und beruhigende Psychopharmaka

Die Untersuchung zeigt zudem, dass die Altersgruppe der 16- bis 25-Jährigen zwischen 2017 und 2020 mehr Anxiolytika und Sedativa konsumiert hat. Diese Medikamente, die zur Behandlung von Angst-, Erregungs- und Spannungszuständen sowie Schlafstörungen verwendet werden, wurden denn auch nach den Antidepressiva am zweithäufigsten bezogen. Die meisten DDD pro 1000 Einwohnerinnen und Einwohner wurden von den über 51-Jährigen eingenommen.
Insgesamt sind hier die DDD jedoch von rund 103 Millionen (2017) auf rund 96 Millionen (2020) zurückgegangen. Im Jahr 2019 waren von diesen Psychopharmaka 53 Prozent Benzodiazepine und Z-Substanzen mit sedativer Wirkung, 47 Prozent gingen auf angstlösende Benzodiazepine zurück.

Leichte Zunahme von Antipsychotika

Bei den Antipsychotika konnte im untersuchten Zeitraum eine leichte Zunahme festgestellt werden (von insgesamt rund 24 auf 26 Millionen DDD). Die Zunahme pro 1000 Einwohnerinnen und Einwohner liegt somit bei einem Plus von 5,3 Prozent.

Plus von 20 Prozent bei ADHS-Medikamenten

Die prozentual grösste Veränderung bei der Verschreibung von Psychopharmaka war mit einem Plus von 20 Prozent insgesamt bei ADHS-Medikamenten zu beobachten. Männer (63 Prozent) nehmen diese häufiger als von Frauen (37 Prozent). Die bezogenen DDD pro 1000 Einwohnerinnen und Einwohner sind bei den 16- bis 18-Jährigen am höchsten (s. Grafik oben). Gemäss des Obsan-Berichts ist die Zunahme grösstenteils auf das Amphetamin Lisdexamfetamin zurückzuführen, das erst seit 2014 in der Schweiz zugelassen ist.
Aus der Untersuchung geht weiter hervor, dass die Kosten von Psychopharmaka seit 2014 grösstenteils rückläufig sind – ausser bei den ADHS-Medikamenten.
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Quelle: SASIS AG – Medicube /Analysen Obsan; BAG – Spezialitätenliste (SL)/Analysen Obsan.

Wer verschreibt die Psychopharmaka?

Etwa die Hälfte der bezogenen Menge der Antidepressiva (rund 47 Prozent) und Anxiolytika/Sedativa ( rund 60 Prozent) werden von Hausärztinnen und -ärzten verschrieben. Der Anteil der verschriebenen Menge durch Psychiaterinnen und Psychiater ist deutlich geringer (rund 35 Prozent bzw. rund 20 Prozent).

Fazit

Die bezogene Menge der untersuchten Psychopharmaka hat sich zwischen 2017 und 2020 generell zwar nicht stark verändert, trotzdem gibt es unterschiedliche Entwicklungen. Laut dem Bericht des Obsan sind die vermehrten Verschreibungen von Antipsychotika und ADHS-Medikamenten nicht auf eine eigentliche Zunahme psychischer Erkrankungen zurückführen. Antipsychotika würden häufiger «off-label», also ausserhalb der zugelassenen Indikation, verschrieben, etwa als Schlaf- oder Beruhigungsmittel. Im Falle der ADHS-Medikamente scheine die Zunahme bei den Erwachsenen zu bestätigen, dass ADHS-Symptome auch im Erwachsenenalter bestehen bleiben könnten, heisst es in der Publikation.
Die Menge der bezogenen Psychopharmaka habe 2020 nicht übermässig zugenommen, diese sei eher weniger stark angestiegen als in den Vorjahren, kommt das Obsan zum Schluss. Gemäss Analysen des Krankenversicherers Helsana kam es im Frühling 2020 allerdings zu einem Anstieg der Bezüge (Packungen) von Psychoanaleptika (u.a. Antidepressiva) und Schlafmitteln, was als Zeichen für Verunsicherung und eine erhöhte psychische Belastung interpretiert wird. Über das gesamte Jahr 2020 betrachtet, konnte Helsana jedoch konstante Antidepressiva-Bezüge beobachten. Die Auswirkungen der Covid-Pandemie auf den Bezug von Psychopharmaka dürften demnach gering sein.
Detailliertere Informationen zu den Daten sind im Begleitdokument verfügbar.
Das Schweizerische Gesundheitsobservatorium (Obsan) ist eine von Bund und Kantonen getragene Institution. Das Obsan analysiert die vorhandenen Gesundheitsinformationen in der Schweiz. Es unterstützt Bund, Kantone und weitere Institutionen im Gesundheitswesen bei ihrer Planung, ihrer Entscheidungsfindung sowie in ihrem Handeln.
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