«Frau Doktor Sie müssen mich an einem anderen Ort anmelden!» Die Patientin wedelt aufgeregt mit dem Schreiben der psychiatrischen Fachstelle: «Aktuell besteht eine Wartezeit von zirka neun bis zwölf Monaten für einen Termin, weshalb wir Sie um etwas Geduld bitten» steht da geschrieben. Innerlich stöhne ich, schon wieder ein Dokument auf dem Pendenzenstapel.
Ein weiteres Anmeldungsschreiben, eine weitere Suche nach einer Strategie zur zeitnahen Lösung einer schwierigen Situation: Die Patientin ist nicht nur von den Alltagsansprüchen im Job als Sachbearbeiterin, sondern auch als alleinerziehende Mutter von zwei Kindern erschöpft und kriegt den Alltag nicht mehr auf die Reihe. Sie braucht fachärztliche Hilfe, um wieder Fuss im Alltagstrubel fassen zu können. In neun Monaten ist sie vielleicht nicht nur ihren Job los, sondern die Erkrankung bereits chronisch, so dass ein Wiedereinstieg ins Berufsleben schwierig wird.
Als mir im weiteren Verlauf des Sprechstundenmorgens ein Patient mit diagnostizierter Krebserkrankung gegenübersitzt mit der Frage, ob es immer so lange daure, bis die Krankenkasse die Kostengutsprache zur Chemotherapie gebe, verschlägt es mir fast die Sprache. Der lebensbedrohliche Tumor, vor gut sechs Wochen diagnostiziert, wächst merklich und drückt aufs Lymphsystem. Offensichtlich ist nicht nur mein eigener Pendenzenberg immens. Die Nachforschungen ergeben, dass die Kostengutsprache immer noch beim Vertrauensarzt der Krankenversicherung auf dem Pult liegt….
Mein Berufsbild hat sich gewandelt, denke ich am Abend, während ich zur Bewältigung der Anfragen aus der Sprechstunde und der Beantwortung der wichtigsten Mails aus den 80 Nachrichten des Tages nochmals zwei Stunden Büroarbeit aufwenden muss. Anlass dazu ergibt sich aus der Regulierungswut des Parlaments: Von 2001 bis 2021 wurden insgesamt 44 neue Versionen des Krankenversicherungsgesetzes verabschiedet.
«Die Bewältigung dieser Aufgabe wird nur gemeinsam und nicht mit wahlwirksamen, aber kurzsichtigen Kostendämpfungstaktiken gelingen.»
Nachweislich ist der administrative Aufwand für die Ärzteschaft auf 20 Prozent der täglichen Arbeit gestiegen. Der Personalaufwand beim Bundesamt für Gesundheit (BAG) stieg in nur zehn Jahren um 60 Prozent. Die Mühlen mahlen langsam und die Entwicklung ist angesichts des aktuellen Mangels an Gesundheitspersonal sogar anachronistisch.
«Wir brauchen mehr Ärzte!», höre ich derzeit von allen Seiten. Sowohl Gesundheitszentren wie auch Spitäler können bei Stellenausschreibungen nicht mehr einfach aus mehreren Bewerbern auswählen, sondern müssen förmlich um solche buhlen. Gemeinden stehen plötzlich ohne Hausarztpraxis da. «Standortattraktivität» ist ein neues Schlagwort geworden.
So werden wir nicht um Ausbildungsoffensiven herumkommen, sondern auch auf innovative Ideen von kantonaler und kommunaler Seite angewiesen sein, um junge Ärztinnen und Ärzte bei der Praxisgründung zu unterstützen, um so Versorgungsengpässe zu lindern.
Dass Ärztinnen und Ärzte seit Jahren in einem Festsetzungsverfahren zum Taxpunktwert stecken, das der Kanton erstistanzlich entscheiden muss, und dass der Verband im Vernehmlassungsverfahren bei Änderungen in der kantonalen Gesundheitsgesetzgebung zur Begrenzung der Anzahl Ärzte nicht angehört wird, dient der Standortattraktivität für motivierte Jungärztinnen und Jungärzte nicht.
Als kantonale Ärztegesellschaft sehen wir uns nicht nur unseren Mitgliedern gegenüber verpflichtet, sondern stehen für die Versorgungs- und Behandlungsqualität unserer Patienten ein. Um die kantonale Aufgabe der medizinischen Versorgungssicherheit aber zu lösen, fehlen uns zunehmend die Mitglieder. Die Bewältigung dieser Aufgabe wird nur gemeinsam und nicht mit wahlwirksamen, aber kurzsichtigen Kostendämpfungstaktiken gelingen. Sonst werden die Pendenzenberge dereinst so gross, dass wir dahinter die Patienten nicht mehr sehen.
Cornelia Meier ist Co-Präsidentin der Gesellschaft der Ärztinnen und Ärzte des Kantons Solothurn mit Praxis in Zuchwil.