Wer kennt es nicht: Man stösst sich den Ellenbogen, und schon kribbelt das «Surribei» am Unterarm. Das Kribbeln verursacht der Nervus ulnaris, der an dieser Stelle unter der Haut verläuft. Das «Surribei» beruhigt sich meist schnell wieder. Gröbere Nervenverletzungen hingegen sind ein Job für die Nerven- und Plexuschirurgie. Sie beschäftigt sich mit Erkrankungen, Verletzungen und Tumoren, die die Nerven betreffen. Dazu zählen auch Kompressionsprobleme wie das Karpaltunnelsyndrom, Schmerzen im Ellenbogennerv oder Unfallfolgen.
Ein wichtiges Gebiet der Medizin
Nach einem Unfall steht das Überleben einer schwer verletzten Person an erster Stelle. Verletzungen der Nerven sind in dem Moment zweitrangig; doch langfristig können sie zu irreversiblen Lähmungen oder gar zur Invalidität führen. «Je schneller ein hochgradig geschädigter Nerv operiert wird, desto besser, denn ein Nerv braucht Zeit zum Nachwachsen», erklärt PD Dr. Dr. med. Florian Früh, Leiter Handchirurgie am Kantonsspital Aarau.
Fakt ist: Nervenfasern können pro Tag einen Millimeter wachsen. Bei einer Nervenverletzung von 40 Zentimetern dauert es also 400 Tage, bis das Nervensignal von der verletzten Stelle zur Zielregion, zum Beispiel der Muskulatur, zurückkehrt. «Auf alle Unfälle, die in der Schweiz passieren, liegt die Inzidenz einer Nervenverletzung bei ein bis zwei Prozent», so Florian Früh. Das ist viel, wenn man bedenkt, wie viele Tausende Unfälle pro Jahr passieren.
Interdisziplinäre Zusammenarbeit am KSA
Nervenverletzungen sind extrem schmerzhaft und führen unter anderem zu motorischen Einschränkungen. «Eine klinische Beurteilung ist das Wichtigste», sagt Florian Früh. Dabei prüfen die Fachleute, wie das Gefühl und die Bewegung funktionieren und ob die betroffene Person Schmerzen an der geschädigten Stelle des Nervs hat. Häufig unterstützen Neurologinnen oder Neurologen mit einer elektrophysiologischen Untersuchung die Diagnosefindung. Auch die Magnetresonanztomografie oder der Ultraschall kommen zum Einsatz.
Einen Fingernerv zu operieren, ist relativ einfach. Bei wirbelsäulennahen Problemen, die die Nerven betreffen, wird es kompliziert
Generell arbeitet das Team der Handchirurgie eng mit anderen Disziplinen zusammen, beispielsweise mit Fachleuten von plastischer Chirurgie, Unfallchirurgie oder Radiologie, sowie für Nachbehandlungen mit der Handtherapie. Für Patientinnen und Patienten mit chronischen Nervenschmerzen gibt es am KSA ein multimodales Therapiekonzept. Ob Chirurgie, Schmerztherapie, Psychotherapie, Physiotherapie, Handtherapie oder medikamentös: Die Teams arbeiten mit vereinten Kräften für das Wohl der Betroffenen.
Eine Nerven-OP: Von einfach bis komplex
Doch zurück zur Handchirurgie. Wie flickt man einen verletzten Nerv wieder zusammen? «Man muss sich den Nerv wie ein Stromkabel vorstellen», erklärt Florian Früh. Eine Operation verläuft mikrochirurgisch – also unter dem Mikroskop. Die Chirurgin oder der Chirurg entscheidet, ob man den Nerv direkt nähen kann oder mit einem Nervenersatz rekonstruieren muss. Einen Fingernerv zu operieren, ist relativ einfach. Bei wirbelsäulennahen Problemen, die die Nerven betreffen, wird es kompliziert. Und das ist Florian Frühs Spezialgebiet am KSA. «Ein Nervenplexus umfasst das Geflecht peripherer Nerven für die obere respektive die untere Extremität», erklärt er. «Wir operieren am ganzen Körper.»
Allein die Ausbildung für diese Spezialisierung erfordert starke Nerven, da sie anspruchsvoll und facettenreich ist.
Für diese komplexen Fälle gibt es am KSA ganzheitliche Konzepte mit verschiedenen Therapien und Strategien. Dazu zählen unter anderem Nervenrekonstruktionen, Nerventransfers und Sehnenumlagerungen. Bei Nervenverletzungen im Schulterbereich muss man oft auch den Unterarm oder die Hand mitbehandeln. Fachleute für komplexe Nerveneingriffe inkl. Tumoren und Rekonstruktionen am Plexus sind in der Schweiz rar. Allein die Ausbildung für diese Spezialisierung erfordert starke Nerven, da sie anspruchsvoll und facettenreich ist.
Zum Leistungsangebot am Kantontsspital Aarau
Inspiration aus der Anatomie
Im Präparierkurs an einer Leiche weckten die vielen Strukturen auf engem Raum Florian Frühs Interesse an der Hand- und Nervenchirurgie. Danach nahmen die Dinge ihren Lauf: Er verbrachte seine Assistenzzeit im Spital Bülach und im Universitätsspital Zürich; zudem absolvierte er ein MD-PhD-Zweitdiplomstudium in Tissue Engineering am Universitätsklinikum in Homburg (D).
Nach verschiedenen beruflichen Stationen war er als Fellow in der Plexuschirurgie im Queen Elizabeth Hospital in Birmingham (UK) tätig. Zuletzt absolvierte er das einjährige Hand and Microsurgery Fellowship an der Buncke Clinic in San Francisco (USA) und war damit der erste internationale Fellow in diesem kompetitiven und international renommierten Programm. Seit Dezember 2022 ist Florian Früh am
KSA tätig.
PD Dr. Dr. med. Florian Früh, Leiter Handchirurgie am Kantonsspital Aarau