«Es ist unbestritten, dass grundlegende Fehlanreize in unserem System auf die unterschiedliche Finanzierung des ambulanten und stationären Bereichs zurückzuführen sind». So steht es in der
parlamentarischen Initiative, welche die ehemalige CVP-Nationalrätin Ruth Humbel am 11. Dezember 2009 eingereicht hatte. Nun, nach ziemlich genau 14 Jahren befindet sich die einheitliche Finanzierung ambulanter und stationärer Leistungen (Efas) in der Schlussrunde. Sie ist an diesem Dienstag im Ständerat traktandiert
(Nachbemerkung: Sie war traktandiert, wurde nun aber auf Mittwoch verschoben).Nach gängiger Lesart besteht bei Krankenversicherern der Anreiz, die stationären anstelle von ambulanten Behandlungen zu bevorzugen: Denn dann müssen sie nur 45 Prozent und nicht 100 Prozent der Kosten übernehmen. Krankenkassen hätten demnach kein Interesse an einer Ambulantisierung.
Aber stimmt das überhaupt?
Das sagt der Bundesrat
Der Bundesrat spricht nicht von Fehlanreizen, aber von Fehlentwicklungen. Am 14. August 2019 schrieb er in seiner
Stellungnahme: «Die heutige Regelung mit unterschiedlicher Finanzierung der ambulanten und der stationären Leistungen führt zu verschiedenen Fehlentwicklungen.»
Die Versicherer hätten nur dann einen Anreiz, die Verlagerung von stationären zu ambulanten Leistungen zu fördern, wenn die ambulante Leistungserbringung bezüglich Gesamtkosten mindestens 55 Prozent günstiger sind als die stationäre.
Kein Anreiz zur Ambulantisierung
Was heisst da fördern? Was heisst da, Krankenkassen hätten keinen Anreiz zur Ambulantisierung?
Das mag auf dem Papier durchaus so aussehen. In der Praxis sind es aber Ärzte und Spitäler, die aufgrund medizinischer Einschätzungen und behördlicher Vorgaben entscheiden, ob ein operativer Eingriff ambulant oder stationär durchgeführt wird. Und nicht die Krankenkassen.
Wenn aber ein Player kein Interesse an der kostengünstigeren Ambulantisierung – dann sind es Spitäler und Ärzte, wie der Gesundheitsexperte Felix Schneuwly sagt. Eben weil die ambulanten Tarife tiefer sind als die stationären. Und weil ein Spital somit für einen ambulanten Eingriff weniger bekommt als für einen stationären.
Hinzu kommt das Phänomen der Privatversicherten: An ihnen verdienen Spitäler – und zum Teil auch Ärzte – nur bei stationären Eingriffen.
Die Tarife sind das Problem
Wenn also mit Efas ein einheitlicher Verteilschlüssel eingeführt wird, so werden Spitäler und Ärzte weiterhin mit ambulanten Eingriffen weniger verdienen als mit stationären. Die Fehlanreize sind deshalb mit Efas nicht vom Tisch.
«Der Hauptgrund der Fehlanreize liegt in der unterschiedlichen Tarifierung», sagt Gesundheitsökonom Heinz Locher. Nur bei erfolgsneutralen ambulanten und stationären Tarifen wären die Fehlanreize beseitigt. Will heissen: Operative Eingriffe, die sich stationär oder ambulant bewerkstelligen lassen, sollten gleich viel kosten.
«Die heutige Situation bremst tendenziell die erwünschte Verlagerung von stationären zu ambulanten Leistungen und kann damit zu unnötig hohen Kosten führen.» — Stellungnahme des Bundesrats, August 2019.
Das sieht Willy Oggier genauso, auch er Gesundheitsökonom. Und doch wird Efas nach seiner Einschätzung Fehlanreize beseitigen können, allerdings erst im zweiten Schritt. Die Krankenkassen als Tarifpartner erhielten erst dann einen Anreiz, die ambulanten Tarife anzupassen, wenn ihnen dank eines einheitlichen Verteilschlüssels keine Nachteile mehr erstehen.
Efas beeinflusst Tarifverhandlungen
Auf dieses Problem hat auch der Bundesrat im bereits genannten Bericht hingewiesen. Er schreibt, «dass Versicherer und Kantone Anreize haben, die Tarifverhandlungen mit den Leistungserbringern so zu führen, dass Leistungen von den Leistungserbringern in die von Versicherern beziehungsweise Kantonen bevorzugten Leistungsbereiche verschoben werden.»
Sachgerechte Tarife seien jedoch entscheidend dafür, dass die Leistungserbringer die Wahl zwischen ambulanter und stationärer Behandlung nach medizinischen Kriterien und im Hinblick auf die Wirtschaftlichkeit für die ganze Gesellschaft treffen – und nicht nach ihren eigenen finanziellen Interessen.
«Die heutige Situation bremst tendenziell die erwünschte Verlagerung von stationären zu ambulanten Leistungen und kann damit zu unnötig hohen Kosten führen», schreibt der Bundesrat.
Defizitäre Eingriffe
Das würde also heissen, dass die Krankenversicherer vor allem bei den ambulanten Tarifen auf die Bremse treten, wo sie 100 Prozent der Kosten tragen. Das deckt sich mit den Aussagen von Spitälern, die sich seit Jahren darüber beschweren, dass der ambulante Bereich deutlich unterfinanziert sei. Der
Spitalverband Hplus spricht von einer Unterfinanzierung im ambulanten Bereich von 30 Prozent. Diese Zahl dürfte übertrieben sein. Gemäss Heinz Locher haben die Spitäler bei ambulanten Tarifen ein strukturelles Defizit von 15 bis 20 Prozent.
Efas fördert integrierte Versorgung
Die einheitliche Finanzierung ambulant und stationär sorgt zuerst einmal für einen einheitlichen Verteilschlüssel. Das allein bringt die Fehlanreize noch nicht weg. Doch gemäss Polynomics werden Modelle der integrierten Versorgung dank Efas attraktiver, «weil Einsparungen im stationären Bereich vollständig als Prämienreduktion weitergegeben werden können», so im Gutachten zu lesen, das die Forscher von Polynomics im Auftrag der CSS, Helsana und Swica erstellt haben.
So hat Polynomics berechnet, dass im heutigen System Nettoeinsparungen durch integrierte Versorgung in der Grössenordnung von 200 Franken pro HMO-Versicherter resultierten, welche unter Efas nicht mehr beim Kanton, sondern bei den Krankenversicherern anfallen würden. «Durch die Einführung von Efas könnten die Versicherungsprämien von HMO-Versicherten damit um rund 6 Prozent reduziert werden, was einer Erhöhung der heutigen Rabatte um rund 20 Prozent entspricht», so Polynomics.
Wolfram Strüwe ist Leiter Gesundheitspolitik und Unternehmenskommunikation bei der Helsana. Er sagt es so: «Der zentrale Fehlanreiz im heutigen Finanzierungssystem besteht darin, dass Massnahmen im ambulanten Bereich, die zur Vermeidung von stationären Behandlungen führen, nicht vollumfänglich den Versicherten zugutekommen.»