Der Beruf des genetischen Beraters ist relativ unbekannt. Was machen Sie?
Genetische Krankheiten sind mit einer Vielzahl an Herausforderungen verbunden und die Betroffenen sehen sich mit offenen Fragestellungen, oft auch mit Ängsten konfrontiert. Meine Aufgabe ist es, Einzelpersonen, Paare oder Familien über die persönlichen und familiären Auswirkungen einer genetisch bedingten Erkrankung zu informieren und zu beraten, unabhängig davon, ob die Person selbst davon betroffen ist oder die Erkrankungen weitergeben könnten.
Was belastet die Patienten mit Verdacht auf eine genetische Erkrankung am meisten?
Die Auswirkungen sind nicht nur medizinischer, sondern auch psychosozialer, familiärer und reproduktiver Art. In Gesprächen mit den Patienten versuchen wir,
die Genetik zu popularisieren, d. h. komplexe medizinische Informationen in verständliche und nützliche Daten umzuwandeln. Dadurch können die Patienten die Herausforderungen, mit denen sie konfrontiert sind, besser verstehen. Zugleich kann die Ermittlung des erblichen Risikos einer Krankheitsentwicklung dazu führen, dass nach Möglichkeit vorbeugende Massnahmen ergriffen werden.
Welche Ausbildung hat ein genetischer Berater?
In der Schweiz gibt es derzeit keine Ausbildung, auch wenn es seitens der GUMEK (Eidgenössische Kommission für humangenetische Analysen) eine entsprechende Absicht gibt. Die Schweizerische Vereinigung der Genetischen Berater und die Schweizerische Gesellschaft für Medizinische Genetik versuchen, eine Anerkennung des Berufs einzuführen, und denken über die Notwendigkeit eines Masterstudiengangs in diesem Gebiet nach.
Anders sieht es in den meisten europäischen Ländern aus…
Das ist so. In vielen europäischen Ländern werden genetische Berater im Rahmen eines Universitätslehrgangs ausgebildet, der mit einem Master in genetischer Beratung abschliesst. Das European Board of Medical Genetics (EBMG) hat ein Zertifizierungssystem für genetische Berater entwickelt, das einen vom Board akkreditierten Masterstudiengang, mindestens zwei Jahre klinische Berufserfahrung und mindestens 30 Stunden Weiterbildung voraussetzt. Die Ausbildung und Anerkennung der Berater ist daher sehr gut geregelt.
Wird dieser Beruf offiziell anerkannt?
In der Schweiz ist der Beruf des genetischen Beraters nur im Kanton Waadt offiziell anerkannt (2008), in Europa lediglich in Frankreich. Mehrere europäische Länder haben Schritte zu seiner Anerkennung eingeleitet. Ganz anders ist die Situation in den USA, Kanada oder Australien – hier ist der Beruf anerkannt.
Als genetischer Berater stehen Sie den Betroffenen nicht nur fachlich zur Seite, sondern unterstützen diese auch auf psychologischer Ebene. Wie läuft eine genetische Beratung ab?
Unsere Beratungen dauern in der Regel eine Stunde. Wir nehmen uns Zeit, um den Patienten kennen und verstehen zu lernen, aber auch, um ihm die genetischen Merkmale seiner Erkrankung zu erklären. Wir besprechen mit ihm die Auswirkungen, welche die Durchführung eines Gentests haben kann. Wir bieten den Patienten psychologische Unterstützung an, hören ihm zu und helfen ihm bei der Entscheidungsfindung.
Die Genetik spielt auch bei vielen Krebserkrankungen eine zentrale Rolle. Welchen Stellenwert hat die genetische Beratung in den Brustzentren?
Der genetische Berater ist ein fester Bestandteil des Tumorboards, denn rund fünf bis zehn Prozent aller Brustkrebsfälle sind die Folge einer erblichen Veranlagung. Wir unterstützen die Patienten auf psychologischer Ebene, ebenso wird anhand der genetischen Werte und Parameter die Therapie individuell angepasst.
Zum Schluss: Weshalb sind Sie genetischer Berater geworden?
Meine Leidenschaft ist die Genetik und der Kontakt mit Patienten gibt mir sehr viel. Nach meinem Studium der Zellphysiologie begann ich ein Masterstudium in genetischer Beratung, das ich mit einer Doktorarbeit zum Thema «Berufliche Eingliederung von genetischen Beratern» abschloss. Ich versuche, meine Leidenschaft und meinen Enthusiasmus an meine Studenten an der Universität Siena weiterzugeben, wo ich im Rahmen ihres europäischen Masterstudiengangs in genetischer Beratung den Kurs «Genetische Beratung und psychologische Unterstützung» unterrichte.
Copyright ® A. Beijns, Helvète Media, La Newsletter, November 2022, Ausgabe Nr. 16, Seite 14.
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