Gewalt an Kindern: «Jetzt braucht es ein Gesetz»

Schläge, Beschimpfungen oder Liebesentzug – in der Schweiz erlebt fast jedes zweite Kind zu Hause Gewalt. Der Kinderschutz fordert Massnahmen vom Bund.

, 17. Oktober 2022 um 08:43
image
Eine Umfrage der Universität Freiburg zeigt, dass fast jedes zweite Kind hinter geschlossenen Türen Gewalt erlebt. | Symbolbild Freepik
Die neuen Resultate einer Umfrage der Universität Freiburg im Auftrag der Stiftung Kinderschutz Schweiz sind erschreckend: Fast die Hälfte aller Kinder erfährt zu Hause körperliche und/oder psychische Gewalt. Wie den Resultaten im Bulletin zu entnemen ist, haben napp 40 Prozent der 1013 befragten Eltern schon einmal eine Körperstrafe gegenüber ihrem Kind angewendet.
Schläge auf den Hintern sind mit 15 Prozent die häufigste Bestrafungsmethode. Neu wurden «Schütteln» und «Stossen» erhoben: Rund elfProzent der Eltern haben ihr Kind schon in Bestrafungssituationen gestossen, und fünf Prozent der Eltern haben ihr Kind schon geschüttelt.
Die Gründe für körperliche Erziehungsmassnahmen sei vielfältig, schreibt die Stiftung Kinderschutz Schweiz in einer Mitteilung an die Medien: «Eltern fühlten sich geärgert oder provoziert, sie waren müde und mit den Nerven am Ende oder das Kind hat nicht gehorcht.»
Doch auch durch psychische Gewalt könne Schaden angerichtet werden, besonders wenn diese regelmässig vorkomme. Bedenklich: Fast jeder sechste Elternteil übt laut Kinderschutz Schweiz regelmässig psychische Gewalt an seinen Kindern aus. Am häufigsten erfolgt die heftige Beschimpfung, gefolgt vom Liebesentzug.

Körperstrafen nicht verboten

In der Schweizer Gesetzgebung existiert kein Verbot von Körperstrafen, wenn sie nicht zu sichtbaren Schäden führen. Für den Kindeschutz Schweiz bedeutet dies, dass Körperstrafen im Umkehrschluss erlaubt sind, «was auch entsprechende Bundesgerichtsurteile bestätigen», ist weiter zu lesen.
Doch Gewaltanwendung in der Kindererziehung könne verheerende Auswirkungen haben, von körperlichen Schädigungen, zu kognitiven oder emotionalen Beeinträchtigungen, bis hin zu psychischen Schäden wie Depressionen, Suizidgedanken, Alkoholismus oder Drogensucht.
«Wir fordern, dass die Schweiz endlich die UN-Konvention über die Rechte des Kindes, mit vereinten Kräften umsetzt», wird Regula Bernhard Hug, Leiterin der Geschäftsstelle von Kinderschutz Schweiz zitiert. «Ein entsprechendes Gesetz für das Recht auf eine gewaltfreie Erziehung ist nötig, denn die Erziehung der Kinder ist zwar Privatsache, Gewalt an Kindern ist es jedoch nicht».
Auch bei den befragten Eltern stösst diese Idee auf Zustimmung: Zwei Drittel gaben an, dass sie von einem solchen Gesetz positive Auswirkungen hinsichtlich der Förderung einer gewaltfreien Erziehung erwarten.
Zum Resultatenbulletin geht es hier.

Update: Bund will keine gesetzliche Verankerung der gewaltfreien Erziehung

Der Bundesrat hat seinen Bericht zum «Schutz von Kindern vor Gewalt in der Erziehung» (Motion Bulliard 19.4632) veröffentlicht. Die gute Nachricht ist, dass der Bundesrat die Verankerung des Rechts auf gewaltfreie Erziehung im Schweizerischen Zivilgesetzbuch (ZGB) für möglich und hilfreich hält. Die schlechte Nachricht laut Kinderschutz Schweiz ist, dass er meint, die Gesetzeslage sei der Bevölkerung klar und es brauche nur mehr Sensibilisierung.
Die Erfahrungen in den umliegenden Ländern zeige: damit Gewalt aus der Erziehung von Kindern verschwindet, brauche es beides: eine eindeutige gesetzliche Grundlage und die begleitende Sensibilisierung dafür. Für Kinderschutz Schweiz ist deshalb klar: «bei Gewalt an Kindern darf es keinen Interpretationsspielraum mehr geben. Die gewaltfreie Erziehung muss unmissverständlich ins Gesetz».

Wie es weiter geht:

Am 3. November wird sich die Rechtskommission des Ständerates mit dem Bericht und der Motion Bulliard 19.4632 befassen. Letztere verlangt, das Recht auf gewaltfreie Erziehung im ZGB festzuschreiben. Eventuell wird der Ständerat dann bereits an der kommenden Wintersession über die Motion abschliessend entscheiden.

  • politik
  • kinderschutz
Artikel teilen

Loading

Kommentar

Mehr zum Thema

image

BAB: Natalie Rickli zieht die Reissleine

Die Zürcher Amt für Gesundheit plante, für das Spitex-Pflegepersonal breitgefächert Berufsausübungs-Bewilligungen zu verlangen. Nun ist der Vorgang sistiert.

image

Atomkraftwerk-Betreiber müssen Jodtabletten zahlen

Der Bundesrat will AKW-Betreiber per Gesetz zur Verteilung von Jodtabletten verpflichten.

image

«Es tobt ein heftiger Konflikt mit den Krankenkassen»

Vor einem Jahr der grosse Physio-Aufstand und die Hoffnung auf bessere Tarife. Und jetzt? Laut den Physiotherapeuten geschah wenig. Die Rede ist gar von Schikanen der Krankenkassen.

image

Luzern: Mehr Geld für die ärztliche Weiterbildung

7,65 Millionen Franken sollen zusätzlich in die Weiterbildung von Ärzten in den Spitälern der kantonalen Spitalliste fliessen.

image

Psychiater schreibt den «Berset-Code»

Kein Krimi: In einer Woche erscheint ein Buch über den Ex-Gesundheitsminister Alain Berset. Der Psychiater Gregor Hasler hat es verfasst.

image

Ihre Ideen sind gefragt: Wie spart man 300 Millionen pro Jahr?

Beim ersten «Runden Tisch» des Gesundheitswesens setzten die Akteure ein Sparziel, das ab 2026 gelten soll. Dazu soll auch die Bevölkerung kreativ beitragen.

Vom gleichen Autor

image

Kinderspital verschärft seinen Ton in Sachen Rad-WM

Das Kinderspital ist grundsätzlich verhandlungsbereit. Gibt es keine Änderungen will der Stiftungsratspräsident den Rekurs weiterziehen. Damit droht der Rad-WM das Aus.

image

Das WEF rechnet mit Umwälzungen in einem Viertel aller Jobs

Innerhalb von fünf Jahren sollen 69 Millionen neue Jobs in den Bereichen Gesundheit, Medien oder Bildung entstehen – aber 83 Millionen sollen verschwinden.

image

Das Kantonsspital Obwalden soll eine Tochter der Luks Gruppe werden

Das Kantonsspital Obwalden und die Luks Gruppe streben einen Spitalverbund an. Mit einer Absichtserklärung wurden die Rahmenbedingungen für eine künftige Verbundlösung geschaffen.