Bekanntlich baute die Migros ihre Gesundheitsangebote in den letzten Jahren massiv aus: Mit Marken wie Medbase, Zur Rose, Impuls, Misenso oder WePractice arbeitete sich der Detailhandelskonzern
in mehr und mehr Healthcare-Felder vor. Medbase, die wichtigste Healthcare-Tochter der Migros, macht heute gut 1 Milliarde Franken Umsatz mit ihren Praxen, Zentren und Apotheken. Das ist mehr, als beispielsweise Swiss Medical Network erzielt.
Allerdings hat der orange Riese das Expansionstempo hier etwas gedrosselt. Denn erstens gab Fabrice Zumbrunnen – zuvor der oberste Gesundheits-Business-Förderer im Haus – im April 2023 sein Amt als Migros-Konzernchef ab (und wechselte zu Swiss Medical Network).
Zweitens arbeitet die neue MGB-Spitze daran, den Konzern wieder stärker aufs alte Kerngeschäft zu konzentrieren. Doch auch jetzt bleibt sie dabei: Sie führt die Gesundheit als eines ihrer Schwerpunktthemen auf.
30 Prozent «neuartige» Versorger
Vor diesem Hintergrund wird ein Beitrag interessant, den eine Gruppe Professoren der US-Universitäten von Harvard und von North Carolina soeben veröffentlicht hat. Deren These: Die Teamwork von Detailhändlern und den klassischen Gesundheitsanbietern bietet noch viel Potential. Was wir bislang gesehen haben, ist erst der Anfang.
Eine Zahl dazu: Laut der
Strategieberatungsfirma Bain & Company dürften «nicht-traditionelle» Versorger bis 2030 knapp einen Drittel des medizinischen Grundmedizin-Bedarfs abdecken; dies jedenfalls in den USA.
Robert S. Huckman, Vivian S. Lee, and Bradley R. Staats nennen in ihrem Aufsatz nun diverse Felder, in denen Retailer und Health Systems enger zusammenarbeiten könnten und werden.
Die Entwicklung begann in den USA vor gut 20 Jahren, indem die Detailhändler irgendwelche Medizinangebote auch in den Läden einrichteten, zum Beispiel Tests und Beratungen. Ziel war es, mehr Kundschaft in die Mall oder den Supermarkt zu bringen, Ladenflächen besser auszunutzen und auch neue Gesundheitsprodukte zu verkaufen. Also weitete sich auch das Supermarkt-Angebot von Nahrungsergänzungs- oder Vitamin-Präparaten et cetera aus.
In einer nächsten Stufe wurde die Betreuung bei chronischen Krankheiten von Handelskonzernen wie Walmart, Walgreens oder CVS selber angeboten – und manchmal auch psychologische Beratung sowie weitere Angebote der ärztlichen Grundversorgung.
Und so offerieren heute beispielsweise Costco und Amazon ihren Treuekarten-Besitzern respektive eingetragenen Kunden einen günstigen (Selbstzahler-)Telemed-Dienst.
Schnappschuss aus der Migros am Limmatplatz in Zürich | Bild: PD MGB
Auf der Gegenseite entwickeln Klinikkonzerne Diätprogramme, die sie dann über Partner-Lebensmittelketten standardisiert verkaufen – so dass sie ihre Patienten nur noch in den Supermarkt schicken können. Quasi mit einem Rezept im doppelten Sinne.
Auch hat die Food-Delivery-Firma Instacart eine Partnerschaft mit dem Boston Children’s Hospital sowie den Mount-Sinai-Spitälern begonnen; dabei liefert sie passende Menus an Menschen mit Bluthochdruck, Diabetes oder Nierenprobleme.
Als Beispiel zu erwähnen wären hier auch die
Gesundheitskioske, die Gesundheitsminister Karl Lauterbach in Deutschland ausrollen will. Darin bieten Pflegefachleute erste Beratung und Präventionsangebote – wobei zur Idee auch gehört, dass diese «Kioske» in Einkaufszentren und -zonen entstehen: Gesundheit als
Angebot neben dem Shopping.
Gesundheitskiosk in Hamburg | Bild: AOK Rheinland/Hamburg.
In den USA ist diese Vermischung von Detailhandel und Hausarzt-Betreuung schon weiter fortgeschritten, mit zahllosen so genannten
«Retail Clinics», wo teils auch nicht-ärztliches Gesundheitspersonal bei kleineren Verletzungen und Standardkrankheiten hilft. Die Supermarkt-Kette
Target betreibt beispielsweise 78 eigene «Target Clinics».
Allerdings:
Walmart, der grösste Detailhandelskonzern der Welt, verkündete soeben die Schliessung seiner 51 «Health Centers» in Amerika; der Walmart-Telemedizin-Dienst wird ebenfalls eingestellt
(mehr).
Die Erklärung erinnert ein bisschen an die Jahresberichte der Schweizer Spitäler: Die «Entschädigungs-Umgebung» sei «herausfordernd», schrieb Walmart. Und die steigenden Betriebskosten würden es erschweren, anständige Margen zu erzielen.
Dies wiederum deutet an, dass das Grundversorgungs-Geschäft bei kleineren Organisationen vielleicht besser aufgehoben ist als bei Giganten wie Walmart.
Auf einer weiteren Ebene – so die US-Autoren – findet sich das Telemed-Angebot. Auch hier werden die Retailer bedeutsamer.
Anfänglich dienten Videosprechstuden vor allem der Erstberatung und der Triage. Heute werden sie viel stärker fürs Management von chronischen Krankheiten eingesetzt – sowie zur Ermöglichung von Hospital@Home, also für die Daheim-Pflege von Patienten, die ansonsten im Krankenhaus oder in einem Heim betreut werden müssten.
Auch hier, so die These, dürften Detailhändler dereinst eine wichtigere Rolle spielen.
Das Beispiel dazu: Der Elektronikhändler Best Buy (eine Art amerikanischer Media Markt) übernimmt im Auftrag von Spitalkonzernen wie Atrium Health oder dem General Brigham Hospital die Installation der Medizinalgeräte, welche Hospital@Home- und Pflege-Patienten zuhause benötigen.
In einem Pilotprojekt mit dem Klinikkonzern Geisinger Health verantwortet Best Buy auch die Überwachung und das Monitoring von Bluthochdruck-Patienten.
Dies führt zu einer weiteren Stufe. Die Frage dazu lautet: Was könnte man gewinnen, wenn man – überspitzt gesagt – die Migros-Cumulus-Karte oder die Coop-Supercard mit dem EPD kombinieren würde?
Denkbar wäre eine Welt, in der die Detailhändler (selbstverständlich von KI- und Deep-Learning-Programmen unterstützt) den Kunden Rezepte und Lebensmittel-Angebote unterbreiten, die den gesundheitlichen Bedürfnissen entsprechen.
Ein Beispiel auf einer allgemeineren Ebene bot ein
Experiment aus Italien: Dort gelang es, durch die Auswertung von Kundendaten – also des Einkaufsverhaltens in einer Supermarkt-Kette – den Ausbruch und die Entwicklung einer Grippe-Epidemie zu prognostizieren.
Dieselben Personalsorgen
Ein letztes Beispiel der Autoren: Die Ausweitung des Detailhandels auf Gesundheits-Angebote könnte auch auf dem Personalmarkt neue Chancen eröffnen.
Denn was verbindet den Einzelhandel sonst noch mit dem Gesundheitswesen? Ein ausgeprägter Fachkräftemangel. Zugleich benötigen beide Branchen Menschen, die gut mit anderen Menschen umgehen können.
Walmart nützt diese natürliche Nähe bereits aus und offeriert seinen Supermarkt-Angestellten die Möglichkeit, sich beispielsweise als Optiker, Gesundheits-Coaches oder MPA weiterzubilden. Womit der Konzern dem Personal Alternativen bietet, während er zugleich Stellen im klassischen stationären Supermarkt-Geschäft abbaut.