Frau Stadler, seit Mai 2022 ist die Online-Meldestelle des Verbands Schweizerischer Assistenz- und Oberärztinnen und -ärzte aktiv (Vsao) aktiv. Dort können Mitglieder aber auch Nicht-Mitglieder Missstände melden, die sie an ihrem Arbeitsplatz festgestellt haben. Welche Bilanz zieht der Verband knapp ein Jahr später?
Wir machen monatlich ein Reporting von den Meldungen, die bei uns eingehen. Darin erfassen wir die Zahlen und die Art der Missstände, welche über die Meldestelle eingegangen sind. Von Mai bis Dezember 2022 waren es 113 Meldungen, das sind im Durchschnitt rund 14 pro Monat. Diese Zahl ist allerdings mit Vorsicht zu geniessen: Oft vermelden die Sprecher einer ganzen Personengruppe Missstände, teils sind es jedoch auch Einzelpersonen.
Entspricht diese Zahl den Erwartungen?
Das ist schwierig zu sagen. 14 Meldungen pro Monat mag nach wenig klingen. Wenn man aber weiss, dass hinter einer einzigen Meldung eine ganze Spital-Abteilung stecken kann, bekommt diese Zahl ein anderes Gewicht und die Meldung eine andere Dynamik.
Meldet sich eine ganze Abteilung, muss wohl richtig Feuer im Dach sein. Welche Themen drücken hauptsächlich auf den Schuh?
Bis jetzt betreffen die Gruppen- und Einzelmeldungen mehr oder weniger durchs Band Verstösse gegen das Arbeitsgesetz. Dabei handelt es sich oft um Themen wie zu lange Nachtdienste, die Überschreitung der Höchstarbeitszeit, Wochenenden und Pausen, die nicht kompensiert oder bezogen werden können, sowie zu wenig interne strukturierte Weiterbildungen, die absolviert werden dürfen.
Einer der Beweggründe, die Meldestelle ins Leben zu rufen, war auch, der sexuellen Belästigung entgegenzuwirken. Wie sieht es hinsichtlich solcher Meldungen aus?
Bisher gingen lediglich drei Meldungen wegen sexueller Belästigung bei uns ein. Das ist insofern etwas bedenklich, weil wir und unsere Partnerorganisationen wissen, dass dieses Thema gerade bei Assistenz- und Oberärztinnen und -ärzten längst nicht vom Tisch ist. Es zeigt allerdings auch wieder, dass die Hemmschwelle, sexuelle Belästigungen zu melden, noch immer sehr hoch ist. Deshalb will der Vsao die Prävention weiter verstärken, noch mehr auf bereits bestehende Unterstützungsangebote aufmerksam machen und gegebenenfalls weitere Unterstützungsangebote lancieren.
Welche Angebote stehen Betroffenen denn zur Verfügung?
Die Mitglieder des Vsao haben Anspruch auf eine unentgeltliche Rechtsberatung, welche von den Sektionsjuristinnen- und juristen erbracht wird. Dieses Angebot steht auch Personen, die zum Beispiel diskriminiert oder sexuell belästigt werden, zur Verfügung. Die Rechtsanwältin oder der Rechtsanwalt der zuständigen Vsao-Sektion unterstützt die betroffene Person und vertritt sie wenn nötig auch vor Gericht. Aber auch bei arbeitsrechtlichen Angelegenheiten – sei es die Nichteinhaltung des Arbeitsgesetzes oder Pausen, die nicht bezogen werden dürfen – können sich unsere Mitglieder an die Sektionsjuristinnen- und juristen wenden und erhalten entsprechende Beratung und Unterstützung.
Weiter arbeitet der Vsao mit externen Partnern zusammen ....
Ja, der Vsao arbeitet beispielsweise mit Remed, einem Unterstützungsnetzwerk von und für Ärztinnen und Ärzte oder der Fachstelle Und zusammen. Bei diesen Angeboten stehen spezialisierte Ärztinnen und Ärzte oder neutrale Coaches den Betroffenen in verschiedenen Lebenssituationen oder -krisen beratend und unterstützend zur Seite.
Wer sich für eine Meldung entscheidet: Wie sieht der Ablauf danach aus?
Die Meldungen an unsere Meldestelle gehen bei uns im Zentralsekretariat ein und werden selbstverständlich absolut vertraulich behandelt. Bei Einverständnis der meldenden Person oder Gruppe leiten wir die Meldung der zuständigen Vsao-Sektion weiter. Um die Sachlage zu eruieren, erfolgt danach eine individuelle Rechtsberatung. Einzelpersonen werden je nach Situation durch eine Rechtsanwältin oder einen Rechtsanwalt vertreten; vielleicht handelt es sich aber auch um ein systemisches Problem, das auf Verbandsebene mit der Spitalleitung angegangen werden muss. Klar ist, dass jede Meldung sorgfältig geprüft und daraufhin gemeinsam mit der meldenden Person das weitere Vorgehen besprochen wird.
Die Meldestelle zeigt also durch und durch Wirkung …
Das tut sie in der Tat. Unsere Anlaufstelle ist wichtig für alle Mitglieder aber auch für Nicht-Mitglieder. Sie gibt den meldenden Personen die Möglichkeit, ohne grossen Aufwand mitzuteilen, wo der Schuh drückt. Durch die Meldungen haben wir zudem einen guten Überblick, wo die Probleme liegen oder solche zu erwarten sind und können entsprechend frühzeitig reagieren.
Gibt es eigentlich auch Meldungen, die sich als Fars herausstellen?
Wir haben bislang nur ganz wenige Meldungen erhalten, welche sich als Fars herausstellten. Diese Meldungen erscheinen nicht in unserem monatlichen Reporting.