Personal: Die Eigernordwand kommt erst noch

Die Spitäler und Heime stehen vor einer gewaltigen Aufgabe: In der Personaldecke klaffen erste Löcher – und jetzt verstärken sich die Probleme gegenseitig. Was es da braucht, ist Total Recruiting.

Gastbeitrag von Stephan Rotthaus, 31. Mai 2024 um 22:00
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«Entscheidend ist Ihre Reaktion am Beginn der Abwärtsspirale»: Autor Stephan Rotthaus.   |  Bild: PD
Im letzten Sommer waren wir unterhalb der Eigernordwand. Schon wenn man den steilen Schutthang am Fusse der Wand emporsteigt, fühlt man sich gefordert. Aber wer dann den Kopf hebt, sieht erst, welche Herausforderung noch vor einem liegt.
Dieses Bild passt zur Personalsituation in unseren Spitälern und Pflegeeinrichtungen. Wir sind darauf konzentriert, die aktuellen Engpässe zu bewältigen: Sie erscheinen uns schwierig genug.
Doch wir sollten den Blick heben. Nur so erkennen wir die ganze Dimension dessen, was auf uns zukommt. Nur wenn wir dies tun, können wir adäquat reagieren.
  • Stephan Rotthaus ist internationaler Experte für Personalstrategie mit Büros in Berlin, Köln und Zürich. Er ist Initiator des Kongresses Klinikmarketing und des renommierten KlinikAward. 
Was kommt auf die Gesundheitsbranche zu – in den nächsten fünf Jahren? Ganz simpel: Erstellen Sie eine Excel-Säulengrafik mit dem Lebensalter Ihrer Angestellten. Bitte eine Säule pro Lebensjahr. Jetzt erkennen Sie auf einen Blick: Wie stark ist die Nachwuchs-Kohorte in Relation zu der 55plus-Kohorte? Wer scheidet wann aus Altersgründen aus?
Das Ergebnis für eine grosse Psychiatrie: 30 Prozent der Belegschaft gehen binnen fünf Jahren in Pension. Eine Ausnahme? Vielleicht – aber ein reales Beispiel.
Was zeigen solch einfache Grafiken noch? Sie sehen wahrscheinlich eine Abbruchkante schon bei 62 Jahren, vor allem in der Pflege. Eine gähnende Leere bei Angestellten über 65 Jahren. Und dass Sie auch Führungskräfte in grosser Zahl ersetzen müssen.
«Es gibt nur zwei Wege aus dem Personaldilemma: Höhere Effizienz und mehr Arbeitsvolumen. Wir brauchen beides.»
Mein Rat an die Leitung von Spitälern oder Pflegeinrichtungen: Ermitteln Sie die Zahl der in den nächsten fünf Jahren einzustellenden Mitarbeitenden. Treffen Sie dabei Annahmen zu Fluktuation, Krankenstand, Offboarding in die Pension und Entwicklung der Teilzeitquote.
Bei den meisten Unternehmen stellt sich jetzt die Frage: Wie soll man das bewältigen ohne grundlegende Veränderungen?
Es gibt nur zwei Wege aus dem Personaldilemma: Höhere Effizienz und mehr Arbeitsvolumen. Wir brauchen beides, zwingend. Wenn dies nicht gelingt, ist die zwangsläufige Folge: Leistungskürzungen, Wartezeiten, Verschlechterung der Gesundheitsversorgung.

Spirale sofort stoppen

Entscheidend ist Ihre Reaktion am Beginn der Abwärtsspirale. Denn das Fatale ist: Sind die ersten Löcher in die Personaldecke gerissen, treten drei negative Effekte auf:
  • Umsatzausfälle, erhöhte Kosten für Temporärkräfte.
  • Höhere Belastung und Schwächung der Teams, schlechte Stimmung.
  • Die Notwendigkeit, auch schlechter geeignete Bewerbungen zu akzeptieren.
Kommt Ihnen das bekannt vor? All diese Effekte wurden in den letzten Monaten gleich reihenweise in grossen Gesundheits-Institutionen sichtbar und spürbar.
Je früher und je entschlossener diese Abwärtsspirale gestoppt wird, desto geringer ist der erforderliche Mitteleinsatz, also die Kostenbelastung.
«Trommeln Sie nicht nur auf Social Media. Optimieren Sie den gesamten Personalzyklus.»
Wichtig dabei: Die Spitäler, Kliniken und Heime sind dieser Entwicklung nicht ausgeliefert. Um das Arbeitsvolumen relevant zu erhöhen, lassen sich viele Register ziehen: bessere Konversionsquoten im Recruiting, schnellere Personalprozesse, geringerer Krankenstand, höhere (nicht tiefere!) durchschnittliche Wochenarbeitszeit, Flexibilisierung der Arbeitszeitmodelle, späterer Pensionseintritt, früherer Berufseintritt, verlustfreies Onboarding, strategisches Offboarding.
All das kann mit konkreten Massnahmen unterlegt werden. Von der Politik. Aber auch von jedem Unternehmen.
Die drei wichtigsten Schritte sind:
1. Eine Personalstrategie entwickeln. Klare Ziele mit effektiven und effizienten Massnahmen.
2. Den gesamten Personalzyklus optimieren. Nicht nur auf Social Media trommeln.
3. Alle Angestellten als Akteure einbinden. Die Bereitschaft ist höher als Sie denken.
Kurz: Es braucht Total Recruiting. «Total Recruiting» nennen wir unseren neuen strategischer Ansatz, der die Wucht des Personalproblems ernst nimmt. Angelehnt an das Total Quality Management, welches 1951 zum ersten Mal in Japan erfolgreich angewandt wurde, wird der gesamte Personalzyklus laufend optimiert und die ganze Organisation in die Lösung des Personalproblems eingebunden.
Was bedeutet das konkreter? Einmal kurz aus dem Hamsterrad heraustreten. Den oft vorhandenen «Flickenteppich» an Massnahmen anschauen und ergänzen. Dem Ganzen eine strategische Leitidee und Vision geben. Herausarbeiten, wo Sie gezielt im Personalbereich investieren sollten. Damit Ihre Einrichtung die nächsten Jahre unbeschadet übersteht.

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