Der Branchenverband SwissODP – Schweizer Organisationen der Physiotherapie – nimmt das BAG in die Pflicht: Es soll einen untragbaren Zustand beheben. Dazu empfiehlt SwissODP seinen Partnern, keine Berufsausübungsbewilligung für Physiotherapeuten zu beantragen, die unter Aufsicht arbeiten.
Denn ein Teil der Kantone legt die Voraussetzungen an eine Berufsausübungsbewilligung (BAB) in den Gesundheitsberufen auf eine Art aus, dass Organisationen der Physiotherapie ernsthaft in ihrer Existenz gefährdet sind. Dabei wird weder der gesetzlichen Grundstruktur noch dem Sinn und Zweck des Gesetzgebers Rechnung getragen.
- Anton Widler, lic. iur., ist Verwaltungsrat der SwissODP. Die Allianz vereinigt rund 140 Praxisbetriebe der Physiotherapie.
Ein Physiotherapeut, der in eigener fachlicher Verantwortung seinen Beruf ausübt, benötigt eine Berufsausübungsbewilligung des Kantons. Damit ist er in der Lage, entweder als selbständig erwerbender Physiotherapeut alleine oder mit angestellten Therapeuten zu arbeiten. Weiter kann er für eine Organisation die Funktion eines leitenden Physiotherapeuten übernehmen.
Ein Therapeut mit einer Bewilligung zur Berufsausübung in eigener fachlicher Verantwortung möchte nun einen Therapeuten anstellen, der über ein adäquates Diplom verfügt. Dann stellt sich die Frage, ob der anzustellende Therapeut – der unter Aufsicht arbeitet – neu auch eine Berufsausübungsbewilligung benötigt oder nicht.
Chaotisches Bild
Die SwissODP, die neue Allianz der arbeitgebenden Physiotherapiepraxen, wollte sich Übersicht verschaffen und startete bei den kantonalen Gesundheitsbehörden eine Umfrage.
Die Resultate zeigen ein chaotisches Bild: Während dreizehn Kantone auf einer Berufsausübungsbewilligung für alle unter Aufsicht arbeitenden Physiotherapeuten bestehen, verlangen elf Kantone nur vom leitenden Physiotherapeuten solch eine Bewilligung. Zwei Kantone legen die Gesetze noch kreativer aus (wie die Grafik zeigt).
Wer braucht eine BAB? Umfrage SwissODP Juni 2024.
Diese Angaben sind im übrigen ohne Gewähr – denn teilweise hat sogar der gleiche Kanton auf Nachfrage unterschiedliche Antworten geliefert.
Eine entscheidende Frage lautet: Was war der Wille des Gesetzgebers? Die Grundlagen dafür finden sich in drei Bundesgesetzen, in deren deren Botschaften sowie den entsprechenden Verordnungen: Im Bundesgesetz über die Medizinalberufe (MedBG), über die Gesundheitsberufe (GesBG) und über die Krankenversicherung (KGV).
GesBG: Unter Aufsicht keine Bewilligung nötig
Im Bundesgesetz über die Gesundheitsberufe werden unter anderem die Anforderungen an die Qualität der Ausbildung an Hochschulen und anderen Institutionen von Physiotherapeutinnen und Physiotherapeuten bestimmt.
So wird verlangt, dass eine Absolventin oder ein Absolvent eines Studienganges die folgenden Fertigkeiten und Fähigkeiten erfüllen muss: «Sie sind fähig, in eigener fachlicher Verantwortung und in Übereinstimmung mit den Grundsätzen der guten Berufsausübung qualitativ hochstehende Dienstleistungen im Gesundheitsbereich zu erbringen.»
In einem weiteren Artikel des Gesundheitsberufe-Gesetzes wird dann die Berufsausübung in eigener fachlicher Verantwortung behandelt. Über eine Bewilligungspflicht bei der Arbeit unter fachlicher Aufsicht findet sich keine direkte Aussage. Eine entsprechende Erklärung findet sich jedoch in der Botschaft zum Gesundheitsberufe-Gesetz.
«Auch in den Übergangsbestimmungen wird davon ausgegangen, dass es nur für die Berufsausübung in eigener fachlicher Verantwortung eine Bewilligung braucht.»
Dort wird ausgeführt, «dass bei einer Person, die unter fachlicher Aufsicht einer entsprechenden Fachperson tätig ist, diese Kontrolle ausreicht, um die Patientensicherheit und die Qualität der Leistungen zu gewährleisten, sodass in diesem Fall keine Bewilligung nötig sei».
Dieser Schluss drängt sich schon wegen des im Gesetz statuierten Grundsatzes auf, wonach die Absolventinnen und Absolventen fähig sein müssen, «in eigener fachlicher Verantwortung und in Übereinstimmung mit den Grundsätzen der guten Berufsausübung» gute Dienstleistungen zu erbringen.
Auch in den Übergangsbestimmungen wird davon ausgegangen, dass es nur für die Berufsausübung in eigener fachlicher Verantwortung eine Bewilligung braucht.
KVG: dito
Konsequenz: Es ist grundsätzlich zu unterscheiden zwischen einer Berufsausübung unter eigener fachlicher Verantwortung und einer Berufsausübung unter Aufsicht einer Fachperson mit einer Berufsausübungsbewilligung.
Dies ist insofern von Interesse, als dieselbe Grundstruktur auch dem KVG zugrunde liegt. So wird in der Botschaft zum «Formellen Zulassungsverfahren» ausgeführt: «Der Bundesrat legt Grundvoraussetzungen so fest, dass eine qualitativ hochstehende und zweckmässige Leistungserbringung gewährleistet werden kann. Diese Voraussetzungen beziehen sich je nach Art der Leistungserbringer auf die Aus- und Weiterbildung und stimmen mit denjenigen des MedBG und des GesBG überein.»
Bei der Abgrenzung der Berufsausübung in eigener fachlicher Verantwortung zur Berufsausübung unter Aufsicht hat man sich demnach auch im KVG an dieser Grundstruktur auszurichten.
Gesetzeswidrige Kantone
Während sich das Medizinalberufe- und das Gesundheitsberufe-Gesetz mit den Anforderungen an die Qualität der Aus-, Weiter- und Fortbildung sowie den Grundsätzen der Berufsausübungsbewilligungen beschäftigt, wird im KVG bestimmt, welche Leistungserbringer unter welchen Voraussetzungen über die Grundversicherung abrechnen können.
Zu den Physiotherapeutinnen und Physiotherapeuten heisst es, dass die Voraussetzungen unter anderem für eine Berufsausübungsbewilligung erfüllt sind, wenn die Person «bei einem Physiotherapeuten oder einer Physiotherapeutin, der oder die nach dieser Verordnung zugelassen ist» während zwei Jahren gearbeitet hat.
Eine solche Voraussetzung lässt sich für Physiotherapeuten vertreten, wenn es darum geht, sie selbständig in eigener Verantwortung arbeiten zu lassen oder ihnen die Verantwortung für die Führung anderer Physiotherapeuten zu übertragen.
«Es zeigt sich, dass eine rein grammatikalische Auslegung nicht zu dem vom Gesetzgeber beabsichtigten Ergebnis führt.»
Keinen Sinn macht so eine Voraussetzung bei ausgebildeten Physiotherapeuten, wenn sie über ein adäquates Diplom verfügen und unter Aufsicht arbeiten.
Doch einzelne Kantone verstehen die entsprechende Verordnung so, dass die Leistungsverrechnung über die OKP des angestellten Physiotherapeuten nur mit einer entsprechenden Berufsausübungsbewilligung möglich ist.
Es zeigt sich somit, dass eine rein grammatikalische Auslegung nicht zu dem vom Gesetzgeber beabsichtigten Ergebnis führt. Dies beweist auch der Widerspruch im Gesetz.
Absolventinnen und Absolventen einer anerkannten Institution oder Ausländer mit einem gleichwertigen Diplom müssen nach dem Gesundheitsberufegesetz fähig sein, ihre Leistungen gut in eigener Verantwortung zu erfüllen. Um ihre Berufserfahrung in der Schweiz zu erlangen, müssen sie während den zwei Jahren unter Aufsicht arbeiten. Dies ist jedoch nicht möglich, wenn der Leistungserbringer die Leistung seiner angestellten Physiotherapeuten unter Aufsicht nicht über die OPK abrechnen kann.
Das BAG ist in der Pflicht
SwissOPD hat den Bund – beziehungsweise das BAG – schriftlich aufgefordert, unverzüglich aktiv zu werden und sicherzustellen, dass alle Kantone das revidierte Gesundheitsberufegesetz und KVG im Sinne des Gesetzgebers umsetzen; Physiotherapeuten und Physiotherapeutinnen mit einem Diplom, welche unter Aufsicht arbeiten, benötigen keine Berufsausübungsbewilligung; und ihre Leistungen können über die OKP abgerechnet werden.
Solange dieser Missstand besteht, empfiehlt die SwissODP ihren Partnern, keine Berufsausübungsbewilligung für unter Aufsicht arbeitende Physiotherapeuten zu beantragen.