Herr Barrile, Sie fordern, dass die gesetzliche Obergrenze für die Wochenarbeitszeit in den Kliniken strikt eingehalten wird. Spitalmanager und Chefärzte warnen, dass damit das Gesundheitswesen nochmals verteuert würde. Was antworten Sie?
Tatsache ist: Wir haben ein Gesetz, und das schreibt ein Maximum an Wochenarbeitszeit vor. Aber ein grosser Teil der Ärztinnen und Ärzte in den Spitälern arbeiten gesetzeswidrig. Das Gesetz hat auch gute Gründe. Die maximale Arbeitszeit ist ein Gesundheitsfaktor: Was darüber liegt, wird gesundheitsschädigend. Im Fall der Ärzte und Ärztinnen werden obendrein die Patienten gefährdet. Niemand will von jemandem operiert werden, der in derselben Woche schon 70 Stunden im OP war.
Es war generationenlang die Norm. Hat sich denn wirklich so viel geändert?
Wie es früher war, ist kein Argument gegen unsere Forderung. In der Medizin und in den Pflegeberufen gab es die Tradition, dass man für Gotteslohn arbeitete. Und wenn sich die Berufsleute dann für einen fairen Lohn einsetzten, kamen Argumente im Stile von: Ihr seid egoistisch – ja, es ist fast frech, wenn ihr Geld fordert, um für die Kranken zu sorgen. Wenn heute ein Chefarzt findet, man müsse sich nicht um Arbeitszeiten scheren, erinnert mich das an solche alten Zeiten.
Angelo Barrile
Angelo Barrile ist Facharzt FMH für Allgemeine Innere Medizin und arbeitet in einer Hausarzt-Praxis in Zürich. Der Sozialdemokrat ist Mitglied des Nationalrates und Vizepräsident des VSAO.
Sie fordern also eine konsequent professionelle Sichtweise.
Ja. Das verlange ich nicht nur als Standesvertreter, sondern auch als Politiker und als Bürger dieses Landes. Wenn wir ein Gesetz haben, muss es eingehalten werden. Auch wenn sich das auf die Kosten auswirkt.
Was liesse sich tun, um diese Kostenfolgen dennoch in Grenzen zu halten?
Grundsätzlich sage ich als VSAO-Vizepräsident: Das Einhalten des Gesetzes muss gar nicht kostenneutral sein. Bisher wurde jahrzehnte-, ja jahrhundertelang auf dem Buckel des Spitalpersonals Geld gespart. Als ich nach dem Studium im Spital begann – und mit 40 bin ich noch nicht sehr alt –, da hatte ich Wochen mit 100 Arbeitsstunden. Wenn sich solche Zustände ändern sollen, dann ist es keine Anmassung, sondern es verhält sich umgekehrt: Die herkömmlichen Zustände sind ungerechtfertigt.
Trotzdem, das Argument der Kosten können Sie nicht einfach übergehen.
Ärzte machen viele Arbeiten, für die man kein Medizinstudium braucht, und dann fehlt ihnen die Zeit für die Patientinnen und Patienten. Sie sind überlastet mit administrativen Aufgaben. Es liesse sich viel herausholen, wenn ein Teil dieser Aufgaben von Personen übernommen würde, die keinen Medizinerlohn haben.
Damit lassen sich viele Probleme der Alltagsrealität nicht einfach wegorganisieren. Oft muss ein Arzt kurzerhand einspringen, etwa in einer Notsituation. Das führt dann zu Überstunden.
Damit sind wir bei der beliebten Behauptung, dass die Spitäler am Ende ihre Ärzte mitten in der Operation nach Hause schicken müssten. Das stimmt nicht. Das Arbeitsgesetz lässt eine gewisse Flexibilität zu, und niemand im VSAO findet, man müsse in einem Notfall auf die Stechuhr schauen. Aber es geht darum, dass die Grenzverletzungen bereits eingeplant werden.
Wie das?
Die meisten Spitäler planen die Maximalarbeitszeit als Sollarbeitszeit. Also wird jede Minute darüber zur Überzeit. In anderen Sektoren hat man das schon gelöst. Die meisten Menschen in der Schweiz sagen, sie hätten zum Beispiel eine 42-Stunden-Woche. Auch für sie gilt eine Maximal-Arbeitszeit von 50 Stunden – nur planen dort die Arbeitgeber mit 42 Stunden.
Im Hintergrund steht eine
Erhebung, die der Assistenz- und Oberärzteverband VSAO im April veröffentlicht hatte: Danach arbeiten über die Hälfte der jungen Ärzte in den Spitälern mehr als gesetzlich erlaubt. Sie sind bei einem Vollzeitpensum im Schnitt fast 56 Stunden pro Woche im Dienst – und die zusätzlich geleisteten Stunden werden häufig nicht gemeldet.
Sie fordern, dass weniger Ärzte-Arbeitszeit geplant wird – aber wir haben doch jetzt schon einen schwerwiegenden Mediziner-Mangel.
Das haben wir. Dieser Mangel erklärt sich unter anderem aus den hohen Quoten von Medizinern, die wieder aussteigen – insbesondere von Frauen. Häufige Erklärungen sind dabei, dass familienfreundliche Arbeitsmodelle fehlen. Und dass die Arbeit unbefriedigend wurde, weil man zuviel Bürokratie am Hals hatte, aber zuwenig Zeit für den eigentlichen Beruf.
Wie lässt sich der Wandel konkret umsetzen?
Ein Beispiel: Der VSAO offeriert den Spitälern seit mehreren Jahren eine Dienstplan-Beratung. Dafür gibt es Experten, die zu den einzelnen Häusern gehen, die dort die Dienstpläne analysieren und nach Lösungen suchen, damit die Pläne dem Gesetz entsprechen. Die Spitäler, die sich beraten liessen, meldeten eine Verbesserung der Arbeitsbedingungen und der Zufriedenheit aller Beteiligten – sogar die chirurgischen Kliniken, aus denen man sonst häufig hört, dass sich das bei ihnen kaum umsetzen lässt.
Und was sagen die Chefärzte?
Auch von dort gibt es viele positive Rückmeldungen. Wenn man sieht, wieviel Flexibilität eine richtige Planung ermöglicht, kann man sich bald begeistern dafür.
Wie intensiv nutzen die Spitäler denn dieses VSAO-Beratungsangebot?
Sehr intensiv. Es gibt äusserst viele Beratungen, auch grösste Spitäler nutzen das Angebot. Es ist für unsere Berater eine grosse Herausforderung, das zu stemmen und neben dem Arztberuf zu organisieren. Es ist ein Klischee, dass ein Graben klafft zwischen jungen Ärzten, die irgendwie fauler sind, und alten Chefärzten oder Spitalchefs, die sich sperren. Das ist ein falsches Bild. Auch die Spitäler haben ein Interesse am Wandel – sie wissen einfach nicht, auf welchem Weg der erreicht werden kann.
Beim Pflegepersonal haben sie es doch auch geschafft.
Ja, dort fand ein Umdenken statt. Aber das Grundproblem, dass man die guten Lösungen womöglich nicht kennt, taucht immer wieder auf.
«Es darf nicht sein, dass der Chefarzt einer Uniklinik findet, man solle bis zum Umfallen arbeiten»
Es gehört aber schon auch zur Kultur der Ärzte, dass man sich ein bisschen als Workaholic sieht. Ich kenne auch junge Assistenzärzte, die sich selber so darstellen; und vom ehemaligen Christian Gerber stammt der Satz: «Hart arbeiten darf doch nicht illegal sein». Natürlich darf man hart arbeiten, aber die Aussage von Herrn Gerber erscheint mir fast schon frech. Damit stellt er all die in ein schlechteres Licht, die neben einer 50-Stunden-Woche noch eine Familie und ein Leben haben wollen. Als Arzt ist man sich gewohnt, viel zu arbeiten; das beginnt schon im Studium. Aber es darf nicht sein, dass der Chefarzt einer Uniklinik findet, man solle bis zum Umfallen arbeiten – und die anderen seien irgendwie faul.
Haben wir es auch mit einem Generationenkonflikt respektive Generationenwandel zu tun?
Das Berufsbild hat sich geändert. Früher war der Arzt meistens ein Mann, der soviel arbeitete, wie es ging; und die Frau hütete zuhause die Kinder. Aber die heutigen Ärzte haben auch neue, andere Aufgaben; Aufgaben zum Beispiel, die ihnen früher die Partnerinnen abnahmen.