Es geht voran, wenn auch langsam. Die meisten Ärzte anerkennen, dass Listen mit unnötigen Behandlungen positiv wären – sowohl für die Patienten wie wegen der Kosten. Andererseits wurde die Idee hier bislang weniger dynamisch umgesetzt als beispielsweise in den angelsächsischen Ländern.
Konkret: Vor drei Jahren definierten die Allgemeinmediziner fünf Behandlungen, die es grundsätzlich im ambulanten Bereich zu vermeiden gelte; so die Verabreichung von Antibiotika gegen unkomplizierte Infekte der oberen Luftwege oder Röntgen bei leichten Rückenschmerzen.
Das war als Pionierleistung gedacht: Andere medizinische Fachgruppen sollten nachziehen.
5er-Liste, 9er-Liste
Dann, zwei Jahre später, kam die nächste «Choosing-Wisely»-Liste heraus: Im Mai 2016 präsentierte eine Fachgruppe der Gesellschaft für Allgemeine Innere Medizin SGAIM eine «Blacklist» für den Spitalbereich. Fünf Massnahmen sollen danach in den Schweizer Spitälern vermieden werden, da sie für die Patienten entweder keine Vorteile oder gar Nachteile bieten.
Und jetzt, im März 2017, haben die Intensivmediziner Nägel mit Köpfen gemacht. Die Schweizerische Gesellschaft für Intensivmedizin (SGI-SSMI) veröffentlichte,
wie schon angekündigt, eine eigene 9er-Liste der eher unnötigen Massnahmen in ihrem Bereich.
Konkret schlägt die Gesellschaft jetzt vor:
1. Beschränkungen bei der Sedierung: Beschränkung der tiefen Sedierung mechanisch beatmeter Patienten, indem die Sedierung bis zu einer Tiefe vorgenommen wird, die mithilfe validierter Skalen eingeschätzt wird, und indem ein tägliches Aufwachen – sei es nur teilweise – ermöglicht wird
Die SGI erhofft sich davon eine geringere Gesamtdauer der mechanischen Beatmung und entsprechend weniger Komplikationen in diesem Zusammenhang.
2. Beschränkung bei Transfusionen: Beschränkung der Transfusion von Erythrozyten bei stabilen Patienten ohne Blutungen (Schwelle für Transfusion: Hämoglobinwert von 70 g/l)
Zu den erwarteten positiven Wirkungen zählt die Einsparung von Blutprodukten und die Verringerung transfusionsbedingter Komplikationen
3. Lebenserhaltende Massnahmen: Keine Fortsetzung fortgeschrittener lebenserhaltender Massnahmen bei Patienten, für die ein signifikantes Risiko besteht, zu sterben oder schwerwiegende Folgen zu erleiden, ohne dass zuvor mit dem Patienten – oder den sie vertretenden Angehörigen – die Behandlungsziele besprochen wurden. Dabei sollen vor allem die Werte und persönlichen Neigungen des Patienten berücksichtigt werden.
Dieser Punkt soll nicht nur zu weniger Pflegemassnahmen mit unangemessener Dauer oder Intensität führen, sondern auch die Kommunikation mit den Betroffenen und den Angehörigen fördern.
4. Weniger Breitband-Antibiotika: Keine Verabreichung von Breitband-Antibiotika, ohne zu Beginn die Eignung der Behandlung und jeden Tag die Möglichkeit einer Deeskalation zu prüfen
5. Weniger Zusatzuntersuchungen: Keine Durchführung routine- oder regelmässiger Zusatzuntersuchungen; Untersuchungen sollten nur mit dem Ziel durchgeführt werden, eine spezielle, für den Patienten relevante Fragestellung aufzuklären
Damit sollen nicht nur die entsprechenden Kosten gesenkt werden, sondern auch Begleiterscheinungen wie Strahlenbelastungen könnten abgebaut werden.
6. Weniger Infusionen zur Ernährung. Keine Verabreichung parenteraler Ernährung an Patienten ohne Ernährungsdefizit in den ersten vier bis sechs Tagen des Aufenthalts in der Intensivstation
7. Flüssigkeiten: Keine Verabreichung intravenöser Flüssigkeiten bei Patienten mit Kreislaufinsuffizienz, ohne zuvor die Reaktion auf die Flüssigkeit mithilfe eines dynamischen Tests untersucht zu haben
8. Ulkusprophylaxe: Keine systematische Verabreichung einer Ulkusprophylaxe, sondern nur nach Abwägung von Nutzen und Risiko und bei gleichzeitiger Bevorzugung der enteralen Ernährung.
9. Weniger Katheter: Kein Einsatz invasiver Instrumente (Katheter, Sonden, Drains), wenn kein Nutzen für den Patienten zu erwarten ist, und neuerliche Bewertung ihrer Notwendigkeit mit dem Ziel einer möglichst baldigen Entfernung.
Weniger Materialverbrauch, weniger Medikamentenverbrauch, weniger Komplikations-Risiken: Dies bildet bei fast allen Punkten die Kernvorteile. Und hinzu kommt die Hoffnung, durch einen tieferen Breitband-Antibiotika-Einsatz einen Beitrag zum Resistenzen-Problem zu leisten.
Als Ausgangspunkt hatte die SGI eine «Choosing Wisely»-Liste des American Board of Internal Medicine genommen. Die zuständige Arbeitsgruppe kam aber zum Schluss, dass das US-Vorbild nicht einfach übernommen werden sollte: Es sei wohl sinnvoller, die Relevanz und die Akzeptanz der Massnahmen in der Schweiz zu untersuchen.
«Glaubwürdig, weil von Ärzten»
Daher entschied der Vorstand der SGI-SSMI, die Mitglieder der Gesellschaft aus Ärzteschaft und Pflege zu befragen. Im Anschluss daran wurde die Liste nochmals einer Expertengruppe der SGI-SSMI vorgelegt; diese bestand aus aktiven Mitgliedern der Gesellschaft und setzte sich aus leitenden Ärzten mit langer klinischer Erfahrung zusammen.
Urs Brügger, Gesundheitsökonom an der ZHAW, äusserte sich in der
«Tagesschau» auf Fernsehen SRF sehr positiv zum Vorstoss der Intensivmediziner: Das Projekt gehe in die richtige Richtung. «Ich finde es besonders gut, dass das von den Ärzten kommt. Damit wird es auch glaubwürdig – besser, als wenn das beispielsweise ein Ökonom sagen würde.»